Geschlechterforschung, Kunst, Literatur

Ein Akt des Unterlassens

Von Nicole Seifert.


Frauen[1] haben ja leider früher nicht so viel geschrieben“

Diesen Satz höre ich immer wieder, zum Beispiel, wenn ich Menschen, die in Buchverlagen arbeiten, frage, warum in ihrer Klassikerreihe neben Dutzenden Werken von Autoren nur ein, zwei Werke von Autorinnen vertreten sind. Ja, es stimmt, Frauen wurde lange nicht dieselbe Bildung zugestanden wie Männern, die häuslichen und familiären Anforderungen an sie waren (und sind) ungleich höher, die Lebensbedingungen dem Schreiben hinderlich. Trotz dieser widrigen Umstände gab es jedoch immer Frauen, die Literatur geschaffen haben, und wenn sie dafür morgens um fünf aufstehen oder die Nacht durcharbeiten mussten, wie es von zahlreichen Autorinnen überliefert ist. Dass allgemein – und selbst unter Fachleuten – die Meinung vorherrscht, Frauen hätten früher kaum geschrieben, hat andere Gründe.

Die Werke von Frauen geraten in Vergessenheit. Sie geraten in Vergessenheit, weil wenig bis nichts dafür getan wird, dass sie in Erinnerung bleiben. Das beginnt mit der Rezeption. Die Bücher von Autorinnen werden seltener besprochen als die ihrer männlichen Kollegen, sie werden knapper besprochen und seltener von Männern, wie die Rostocker Studie #frauenzählen gezeigt hat.[2] Zu diesen quantitativ bezifferbaren kommen qualitative Unterschiede: Viel zu häufig geht es, wenn Werke von Schriftstellerinnen besprochen werden, auch heute noch um Außerliterarisches, etwa um Biografisches oder um das Äußere der Künstlerin, viel zu häufig werden dabei geschlechtsspezifische Stereotype reproduziert, dienen etwa Komplimente für das Aussehen der Autorin dazu, ihr Werk herabzuwürdigen.[3] Und immer noch werden Romane von Frauen qua Thema aus der Sphäre der hohen Literatur ausgeschlossen, weil es um weiblich konnotierte Themen geht, die als unwichtig eingeordnet werden.[4]

Es ist besonders diese Marginalisierung qua Thema, die bereits in der Rezeption dafür sorgt, dass Autorinnen dann auch nicht kanonisiert werden und wurden. Das heißt: Es gibt keine Gesamtausgaben, das Werk wird nicht gelehrt und erforscht und bald vielleicht gar nicht mehr nachgedruckt. Es verschwindet.[5] Das wiederum bedeutet, dass es beispielsweise anlässlich eines Todes- oder Gedenktages der Autorin schwierig wird, Expert*innen zu finden, die über sie schreiben oder berichten – also wird gar nicht berichtet. „Nicht das Erinnern, sondern das Vergessen ist der Normalfall in Kultur und Gesellschaft“, heißt es bei Aleida Assmann[6]:

Vergessen geschieht lautlos, unspektakulär und allüberall, Erinnern ist demgegenüber die unwahrscheinliche Ausnahme, die auf bestimmten Voraussetzungen beruht.“

Damit Künstler*innen und ihre Werke in Erinnerung bleiben, müsste demnach aktiv etwas dafür getan werden. So wie es bei den Autoren der Fall ist, deren Bewunderer und Epigonen dafür gesorgt haben, dass sie nicht in Vergessenheit geraten, indem Männer Männern beharrlich Ruhm und Ehre zuschrieben. Unterbleibt das – und es unterblieb, weil Literaturkritik und Literaturgeschichtsschreibung bis heute männerdominiert sind –, entsteht im Laufe der Jahrhunderte der Eindruck, Frauen hätten eben nichts Wichtiges und keine „gute“ Literatur geschrieben. Aber dieser Eindruck könnte falscher nicht sein. Es gab und gibt diese Autorinnen. Sie sind nur in Vergessenheit geraten und sie geraten auch gegenwärtig in Vergessenheit.

Aber kann man hier wirklich von „Vergessen“ sprechen? Eine interessante Frage stellt in diesem Zusammenhang der amerikanische Literaturwissenschaftler Todd McGowan: Warum wurden die Werke von Frauen, von BIPoC und LGBTQIA denn „vergessen“?[7] Seine These: Weil die Traumata, die diese Gruppen erlebten und beschrieben, sich nicht in die Weltsicht des bestehenden Kanons integrieren ließen. Sie wurden abgewehrt und verdrängt, weil andernfalls eine Auseinandersetzung mit diesen Bereichen der Geschichte hätte stattfinden müssen. Und das wiederum hätte bedeutet, dass eine ethische Verantwortung hätte übernommen werden müssen. Vor dem Hintergrund der Sklaverei, der Kolonialgeschichte und der jahrhundertelangen Unterdrückung der Frau war der Ausschluss dieser „anderen“ Stimmen demnach immer schon politisch begründet, ist die ästhetische Begründung stets eine politische.[8]

„Vergessen“ ist in diesem Zusammenhang also mindestens ein Euphemismus, eher noch: schlicht falsch. Denn tatsächlich geht es um nichts Passives, das einfach so geschieht. Tatsächlich sind es aktive Entscheidungen, ein Werk nicht zu lesen, es nicht zu besprechen, es nicht neu aufzulegen, es nicht in eine Literaturgeschichte aufzunehmen, es nicht zu lehren, es nicht zum Teil eines Kanons zu machen. Es ist ein Akt des Unterlassens, des Ignorierens, der in jedem Fall eine Nicht-Würdigung darstellt. Sei es, weil tatsächlich Kriterien angelegt wurden – deren vorgebliche Objektivität jedoch zu hinterfragen wäre – oder aufgrund einer Voreingenommenheit, beispielsweise weil Themen aufgrund eigener Privilegien irrelevant oder uninteressant erscheinen und als unliterarisch abgestempelt wurden. Folgt man McGowans sehr sachlichen, logischen Argumenten, so ging es immer schon um den aktiven Ausschluss bestimmter Literatur und nicht um Vergessen.

Besonders nachvollziehbar wird McGowans Theorie am Beispiel der Literatur Schwarzer Autor*innen. Noch in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts war es versklavten Menschen in den USA bei Strafe verboten, Lesen und Schreiben zu lernen. Die Literatur Schwarzer Autor*innen ist durchzogen vom Trauma eines gewaltsam auferlegten Schweigens – von der Figur der Louvinie in Alice Walkers Meridian, der die Sklavenhalter die Zunge herausschneiden, bis zu den sprachlosen Protagonistinnen in den Romanen von Gayl Jones, der Autobiographie von Maya Angelou und Alice Walkers Die Farbe Lila, das gleich zu Beginn ein Sprechverbot zitiert.[9] Hätte man die Literatur Schwarzer Autor*innen und versklavter Menschen schon zum Zeitpunkt ihres Entstehens als literarisch anerkannt und ernsthaft rezipiert – wie hätte man einer Auseinandersetzung mit der Sklaverei, der gesellschaftlichen Verantwortung und dem immer noch vorhandenen Rassismus aus dem Weg gehen können?

Frauen schreiben seit sie schreiben über ihr Leben in der patriarchalen Gesellschaft – nicht nur, aber immer auch. Sie schreiben, oft bitter und auch mal komisch, darüber, in welche Rollen sie gedrängt werden und wie sie versuchen, damit umzugehen. Und sie schreiben von Alice Walker bis Marlene Streeruwitz, von Gabriele Reuter bis Ann Petry, von Marlen Haushofer bis Karen Köhler darüber, wie diese Verhältnisse sie unterdrücken, unglücklich und krank machen. Würden diese Werke an Schulen und Universitäten gelehrt, würden sie in Kanones aufgenommen und breit besprochen – wie könnte man einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit den Ungerechtigkeiten und Folgen einer patriarchalen, rassistischen und heteronormativen Gesellschaftsordnung aus dem Weg gehen? Der Grund für den Ausschluss weiblicher Literatur aus der Literaturgeschichte liegt nicht in ihrer, bis heute immer wieder behaupteten, minderen Qualität. Er liegt in der gesellschaftlichen Verdrängung der Themen, über die Schriftstellerinnen schreiben und schon immer geschrieben haben.

Nicole Seifert lebt als freie Autorin, Bloggerin und Übersetzerin in Hamburg. Nach dem sie eine Ausbildung zur Verlagsbuchhändlerin beim S. Fischer Verlag absolviert hatte, studierte sie Amerikanistik und Vergleichende Literaturwissenschaften in Berlin. Sie promovierte über die Tagebücher von Virginia Woolf, Sylvia Plath und Katherine Mansfield. Zuletzt ist bei Kiepenheuer & Witsch ihr Buch Frauen Literatur, Abgewertet, Vergessen, Wiederentdeckt erschienen.


Fussnoten

[1] Wie begreifen und verwenden wir den Begriff „Frau“ und im allgemeinen „Geschlecht“? Beim Begriff „Frau“ handelt es sich um eine historisch und sozial entstandene Kategorie, die unter anderem dazu dient(e), als weiblich gelesenen Menschen (unabhängig davon, ob sich diese selbst als Frauen begriffen) bestimmte Rollen zuzuweisen sowie bspw. ihre Ausbeutung in patriarchalen und kapitalistischen Strukturen und den Ausschluss von politisch-öffentlichen Räumen zu legitimieren. Geschlecht ist daher keine objektive oder neutrale Kategorie, sondern eine persönlich-politische, welche über die Binarität Mann/Frau hinausgeht. Zudem ist darauf hinzuweisen, dass der Literaturbetrieb bisher von binären Geschlechtskategorien geprägt ist und es auch den angeführten Untersuchungen nicht gelingt, schreibende Menschen zwischen und jenseits von weiblich und männlich sichtbar zu machen.

[2] #frauenzählen, Sichtbarkeit von Frauen in Medien und im Literaturbetrieb, ein Forschungsprojekt der verbandsübergreifenden AG Diversität*. Dort sind außerdem andere europäische Studien zu Geschlechterverhältnissen im Medienbetrieb verlinkt.

[3] Vgl. Nicole Seifert, Frauen Literatur, Abgewertet, Vergessen, Wiederentdeckt, Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2021, S. 38ff.

[4] Vgl. Joanna Russ, How to Suppress Women’s Writing, Austin: University of Texas Press, S. 48, sowie Veronika Schuchter, „Adam und Eva der Literaturkritik: Literaturkritik als Männlichkeitsdiskurs“, in: Peter C. Pohl / Veronika Schuchter (Hg.), Das Geschlecht der Kritik, Studien zur Gegenwartsliteratur, München: edition text + kritik 2021, S. 46-64.

[5] Vgl. z.B. den Fall von Gabriele Reuter: Renate von Heydebrand und Simone Winko, „Geschlechterdifferenz und literarischer Kanon, Historische Beobachtungen und systematische Überlegungen“, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte 19/2 (1994), S. 96-172.

[6] Aleida Assmann, Formen des Vergessens, Göttingen: Wallstein Verlag 2016, S. 30.

[7] Todd McGowan, The Feminine „No!“, Psychoanalysis and the New Canon, Albany: State University of New York Press 2001.

[8] McGowan, S. 28.

[9] Vgl. Anne Koenen, „Der verweigerte Ort, Sklaverei und Freiheit in der Literatur afro-amerikanischer Autorinnen“, in: Hiltrud Gnüg / Renate Möhrmann (Hg.), Frauen Literatur Geschichte, Schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Stuttgart / Weimar: J.B. Metzler 1999, S. 574-590, hier S. 574.

Bild: Collage einer unvollständigen Auswahl an Porträts weiblicher und queerer Autor*innen (v.l.n.r. und v.o.n.u.): Statue von Irmgard Keun, geschaffen von der Bildhauerin Marieluise Schmitz-Helbig am Rathausturm Köln. ©Raimond Spekking. CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons. Annelise Grobéty, 1993. Foto ©ErlingMandelmann.ch. CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons. Alice Walker, 2007. Fotografiert von Virginia DeBolt, CC BY-SA 2.0 via Wikimedia Commons. Maya Angelou, 1993. Clinton Library, Public domain via Wikimedia Commons. Annemarie* Schwarzenbach, Selbstporträt 1938. Public domain via Wikimedia Commons. Audre Lorde fotografiert von Elsa Dorfman. CC BY-SA 3.0 und CC BY 2.5. via Wikimedia Commons. bell hooks 2009. Cmongirl, public domain via Wikimedia Commons. Virginia Woolf, 1902. Fotografiert von George Charles Beresford, Public domain via Wikimedia Commons. Gedenktafel Marlen Haushofer, gestaltet von Christian Pramesberger. Fotograf: Christoph Waghubinger, Lewenstein. CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons. Andrea Scrima, 2016. CC0 1.0 via Wikimedia Commons. Marlene Streeruwitz, 2013, fotografiert von Yvonne Ihmels. CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons. Graffiti von Toni Morrison, fotografiert 2010 von Zarateman CC0 1.0 via Wikimedia Commons. Statue von Marieluise Fleißer in Ingolstadt, fotografiert 2016 von Chrisi1964. CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons. Titelkupfer aus ‚Gedichte der blinden Luise Egloff‚, 1823, von I. Brodtmann. Public domain via Wikimedia Commons. Susan Sontag photographed in her home 1979 ©Lynn Gilbert. CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons. Gertrude Stein, fotografiert von Carl Van Vechten. Public domain via Wikimedia Commons. Nanni von Escher, 1885. Foto von R.Ganz, Zürich. CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons. Lilli Haller, 1900. Zürcher Illustrierte, 1933. CC BY 4.0 via Wikimedia Commons. Porträt von Cécile Ines Loos, fotografiert von Lothar Jeck. CC BY 4.0 via Wikimedia Commons. Karen Köhler, 2020. Foto von Da jackson, CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons. Isabelle Eberhardt. Bettyswallow.wordpress. Public domain via Wikimedia Commons. Anna Felder, 2011. Cygnebleu, CC0 1.0 via Wikimedia Commons. Marguerite Abouet, 2014. ©Evelyn Rois für das Tricky Women International Animation Filmfestival, CC BY 4.0 via Wikimedia Commons. Sharon Dodua Otoo, 2016. Fotografiert von Amrei-Marie, CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons. Antje Rávik Strubel, 2005, Selbstporträt. Public domain via Wikimedia Commons. Chimamanda Ngozi Adichie, 2020. Carlos Figueroa, CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons. Sappho, dargestellt auf einer attischen rotfigurigen Kalathos, um 470 v. Chr., aus Akragas (Sizilien). Public domain via Wikimedia Commons. Leonora Carrington, Kulturdepartement von Mexiko Stadt 2021. CC BY 2.0 via Wikimedia Commons. Portrait von George Sand, fotografiert von Nadar, 1864. Public domain via Wikimedia Commons.

4 Gedanken zu „Ein Akt des Unterlassens“

  1. ‚ Noch in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts war es versklavten Menschen in den USA bei Strafe verboten, Lesen und Schreiben zu lernen. ‚
    Wohl eher 19. JH, nicht?

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