Von Lea Dora Illmer. Dieser Beitrag ist Teil der Blogserie «Heute Nacht geträumt» und nimmt Bezug aug die Veranstaltung «From what point does the contemporary begin?».
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Wie jedes Stockwerk der Ausstellung «Heute Nacht geträumt» ist auch jede Veranstaltung dieser Reihe rund um eine Frage organisiert. Der heutige Abend fragt: «From what point does the contemporary begin? Wann beginnt die Gegenwart?» Es geht um Fragen der Zeit, der Temporalität und der Geschichte. Zu Gast sind Len Schaller, Co-Kurator*in und Co-Künstler*in der Ausstellung, Fiona McGovern (Bildende Kunst und Kunstwissenschaft Hildesheim), Aden Kumler (Kunstgeschichte Basel) und Dominique Grisard von art of intervention (Moderation). Der Abend widme sich der Denaturalisierung und Verortung von Zeit, betont Dominique Grisard, es gehe darum, wie Zeit durch Messung und Vereinheitlichung als konstante, naturgegebene, zielgerichtete Tatsache in Erscheinung trete.
Inventar und Epoch-Studies
Gemeinsam mit Len Schaller beschäftigen wir uns zuerst mit Zeitachsen und Zeitstrahlen. Len gewährt uns einen Blick hinter die Kulissen, auf das, was Ruth Buchanan «Epochen-Studien» nennt. Ein wiederkehrendes Element der Ausstellung bildet die beschriftete Wand in jedem Stock. Bewusst wurde dafür die Wand im engen Gang vis-a-vis der Toiletten gewählt, an der Besuchende zwingend vorbeigehen. Auf der linken Seite ziert sie jeweils das Fragment eines Gedichts von Ruth Buchanan sowie mit überdimensionierten Lettern jeweils zwei Fragen: eine auf Deutsch und eine auf Englisch. Sie sind verwandt, aber nicht direkt übersetzt. Im Erdgeschoss die Frage des heutigen Abends: Wann beginnt die Gegenwart? At what point does the contemporary begin? Auf der rechten Seite finden wir die Statistiken. Die für jeden Stock von der Künstlerin vorgegebenen Rubriken wie «Gebäude», «Sammlung» und «Künstler*innen» werden dort aufgeführt. Len Schaller hat die Statistiken recherchiert, Monate im Archiv verbracht und Ordner um Ordner gewälzt. Len sagt lachend: «That’s glamorous curating work». Die Kategorien orientieren sich an alltäglicher Infrastruktur, so nennen sie beispielsweise die Eintrittspreise: Bei der Eröffnung des Museums waren das schlappe CHF 2.
Manche Kategorien sollen verwirren, Unruhe stiften. So gibt es etwa unter der Kategorie «Künstler*innen» die Rubriken «lebend», «nicht lebend» und «Ausnahmen». Dasselbe unter «Geschlecht», eine Rubrik, die erst im 2. Stock auftaucht: «weiblich», «männlich» und «Ausnahmen». Diese Ausnahmen sorgen bei vielen Menschen für einen Moment der Irritation. Sie stellen eine vermeintliche Binarität in Frage. Ein*e Künstler*in ist entweder tot oder lebendig, was soll da die Ausnahme sein? Gibt es dafür eine Lösung, die ohne den Glauben an ein Leben nach dem Tod funktioniert? In Bezug auf das Geschlecht wird die Ausnahme immer als politisch wahrgenommen, obwohl sie nicht auf die Präsenz genderqueerer Künstler*innen verweist, sondern auf Künstler*innenkollektive. Len Schallers und Ruth Buchanans Epochen-Studien sind ein schönes Beispiel dafür, worüber bei der letzten Veranstaltung gesprochen wurde: Kuratieren in seiner ursprünglichsten Bedeutung, nämlich als «curare», dem Sorgetragen, dem sich-Kümmern, der Care-Arbeit. Len zitiert zum Schluss Buchanan:
Der statistische Teil der Arbeit ist das Rezept des Kuchens, den deine Mutter für dich gebacken hat, als du klein warst; willst du aber den Duft des Kuchens erfassen, dann wendest du dich der Poesie zu.»
Ambivalenz der Zeitlichkeit
Fiona McGovern ist das erste Mal in diesem Gebäude, es ist das erste Mal seit langem, dass sie reist. Zwei frühere Ausstellungen von Buchanan haben ihre Aufmerksamkeit geweckt, sie hat diese aber nicht physisch besucht. Deswegen sei sie froh, jetzt hier mit ihrem Körper rumlaufen zu können. McGovern denkt darüber nach, was «Gegenwart», was «gegenwärtig» bedeutet. Zurzeit existiere eine lebendige Debatte darüber, was Museen sind oder sein könnten – nebst konservativ-konservierenden Institutionen. Wie kann ein Museum, das bewahrt, überhaupt gegenwärtig sein? Und auch die Frage, wann die Gegenwart beginnt, lässt sich nicht einheitlich beantworten. Ist es für Basel die Eröffnung des Kunstmuseums Gegenwart um 1980? Oder zählt die sogenannte Vorgeschichte bereits dazu? Fest stehe, dass die Definition der Gegenwart und davon, was als Gegenwartskunst gilt, mit Macht verbunden ist. Es existiere, so McGovern, keine Gegenwartskunst ausserhalb des Westens, weil diese als «ausserhalb der Zeit», als «nicht modern» wahrgenommen werde.
Diese Ausschlüsse sind auf den Kolonialismus zurückzuführen. Kategorien an sich waren historisch gesehen Teil kolonialer Herrschaft. Auch das Generieren wissenschaftlicher Taxonomien fällt in die Zeit des 18. Jahrhunderts und entsprach dem Bedürfnis, Ordnung in der Vielfalt der Dinge zu schaffen. Das Zu- und Einordnen anhand eines vorkonstruierten Massstabs ist eine machtvolle, wertende Geste: Sie schafft Überblick und hebt bestimmte Merkmale zu Ungunsten anderer hervor. Sie reflektiert die Bedürfnisse und Ansprüche jener, welche das Sortierungsprinzip festlegen. Sie mögen subtil erscheinen, haben aber massive Auswirkungen.
In «Heute Nacht geträumt», führt McGovern aus, werde die Gegenwart als Methode und Praxis genutzt. Es geht um die Herstellung von Zeitgenoss*innenschaft bzw. Co-Zeitlichkeit (ein Begriff der auf Johannes Fabian «Time and the Other» zurückgeht). Die Beziehung zur eigenen Geschichte wird durch die Sammlung reflektiert, die Arbeiten werden kontextualisiert. So gerät auch die Muesumsdefinition ins Wanken: Was ist noch relevant? Für heute? Für die Besucher*innen? Ruths Vorgehensweise könne auch auf andere Museen und Institutionen angewendet werden: Sie erlaube es dem Museum, zu träumen.

Alternative Zeitlogiken früher und heute
Ein Perspektivenwechsel ermöglicht es, Alternativen als solche zu erkennen. Wir werden von Dominique Grisard dazu aufgefordert, die Plätze zu wechseln. Alle nehmen einen neuen Blickwinkel ein, die Statik wird unterbrochen. Dann startet Aden Kumler. Sie beschäftigt sich mit alternativen Zeitlogiken, mit vergangenen Arten und Weisen, Zeit und Geschichte zu konzeptualisieren. Als Kumler die Ausstellung zum ersten Mal besuchte, war sie irritiert. Sie machte einen Spaziergang, um nachzudenken. Als Amerikanerin in Basel, deren Arbeitsschwerpunkt das Mittelalter darstellt, änderte sich ihr Verständnis von Zeit. Mittelalterliche Zeiten funktionierten nämlich ganz anders:
They spiral, fall, implode and end – definitely.»
In Basel zu sein bedeutet für Kumler auch, an einem Ort zu sein, wo vorher etwas anderes war. Sie sieht, was am Ort des Museums seit dem Mittelalter an Büchern und Papier gefertigt wurde. Sie sieht den Dalbedych, die Gebäude, das hindurchfliessende Wasser, die Interaktion zwischen den beiden. Wenn ich die Hand in den Dych halte, sagt Kumler, tue ich etwas, das Menschen bereits vor tausend Jahren gemacht haben, um an Wasser zu kommen. Das Wasser hat sie auf ihrem Spaziergang besonders angesprochen, weil es eine beliebte Zeitmetapher darstellt. Sie präsentiert uns in Anlehnung an den Kunsthistoriker Henri Focillon eine geologische Vorstellung von Zeit. Sie muss schmunzeln, als sie auf die Kuchenmetapher zurückkommt:
We need to think history as a layer cake.»
Dominique Grisard spannt am Ende bereits den Bogen zur nächsten Veranstaltung vom 13. April und der Frage «Where does my body belong?». Sie paraphrasiert Buchanan: «Zeit ist auch Körper, denn Zeit ist verkörpert». Hier werden wir anknüpfen.
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Lea Dora Illmer studiert Geschlechterforschung, Philosophie und Literaturwissenschaften an der Universität Basel. Ihre Masterarbeit schreibt sie zur sogenannten Frauengesundheitsbewegung in der Schweiz. Daneben schreibt sie für die an.schläge und andere Magazine. Sie ist Mitbegründerin des Vereins FKK (Feministische Kulturkritik).
Bild: Ausschnitt eines Scans des Kalenderblatts «Komplizenschaft» (März) aus dem KAP Kalender 2022 von Revolving Histories (Nicole Boillat, Lena Eriksson, Martina Gmür, Martina Henzi, Chris Hunter, Chris Regn, Carlota Ribi). ©Die Künstler*innen.