Kunst, Rückblick

Das Museum neu gedacht. Oder: Time is everything we have and don’t.

Dieser Beitrag wurde von einer studierenden Person im Rahmen des Seminars «Wessen Wissen? Wessen Kunst? Situiertheit, Materialität und Kritik» bei Dominique Grisard im Frühjahrsemester 2022 verfasst. Er ist Teil der Blogserie «Heute Nacht geträumt» und nimmt Bezug aug die Veranstaltung «From what point does the contemporary begin?».

Was bedeutet Museum? In der gängigen Definition sind die Begriffe Permanenz, Erwerben und Erhalten ein fester Bestandteil. Doch ist das heute noch eine zeitgemässe Erläuterung für alle Museen? Was ist tatsächlich relevant für das Museum für Gegenwartskunst in Basel? Und wie geht Ruth Buchanan in der Ausstellung «Heute Nacht geträumt» im Kunstmuseum Basel | Gegenwart mit dieser Frage um? Buchanan zeigt Besuchenden durch ihre Ausstellung einen unkonventionellen Ansatz auf, wobei sie mit traditionellen Museumsmerkmalen und -prozessen spielt und versucht, Zeit, Raum und Körper anders zusammenzudenken. An mehreren Abenden konnten im April und Mai Debatten zur Ausstellung besucht werden, welche Kontext lieferten und zum Verständnis des komplexen Aufbaus beitrugen. «From what point does the contemporary begin?» ist eine der zentralen Fragen dieser Abende.


Klar gezogenen Linien und ihre Durchquerungen

«Heute Nacht geträumt» ist eine etagenübergreifende Ausstellung. Buchanan hat jedem Stockwerk eine Frage, eine Regel und eine Zeitspanne zugeschrieben. Die Treppe verbindet die eckigen Räumlichkeiten schwungvoll miteinander, sie kann als Orientierungshilfe angesehen werden. Kommt ein*e Besucher*in auf eine neue Etage, wird sie*er von einer starren Wand, einer Art Rückgrat für die Ausstellung, begrüsst. Auf diesen Wänden sind unterschiedliche Statistiken mit Fakten zum Museum abgebildet. Der Inhalt der Statistiken ist je nach Stockwerk und Zeitepoche unterschiedlich. Auch wenn diese rechercheaufwendigen Zahlen einordnend wirken, zeichnen sich auch Abweichungen, sogenannte «Ausnahmen», ab. Das führt zu einer bewussten Destabilisierung der starren Statistik. Irritiert das? Gut. You are supposed to be confused.


Was wird wie ausgestellt? Zur Räumlichkeit und Infrastruktur

Durch willkürliche Entscheidungen wurde inhaltsunabhängig entschieden, was in der Ausstellung gezeigt werden soll. Die Intention dahinter ist es, einen Querschnitt der bisher vom Kunstmuseum gesammelten Werke, die der Gegenwartskunst zugeordnet werden, aufzuzeigen. So wird unvermeidlich etwas über das Gezeigte, das nicht Gezeigte und auch etwas über das zukünftige Zeigen im Museum ausgesagt.

In den Räumlichkeiten lassen sich auch ungewöhnliche Elemente finden. Dazu gehören sicherlich die Sofas, welche zum Verweilen, zum Ausruhen einladen. Besuchende dürfen sich sitzend oder liegend Zeit nehmen, sich zu entspannen und die Ausstellung auf sich wirken zu lassen. Ein weiteres Element ist der von der Künstlerin violett eingefärbte Vorhang, welcher im obersten Stockwerk spiralförmig aufgehängt ist. Buchanans Verständnis von Zeit wird dadurch repräsentiert: Keine gerade Linie, kein geschlossener Kreis, sondern eine Spirale – eine Kombination aus Repetition und Entfaltung, Imitation und Variation.


Wann beginnt die Gegenwart und was bedeutet «zeitgenössisch»?

Die Frage nach der Zeit zieht sich durch die gesamte Ausstellung. Ist Zeit linear? Zeit, so Buchanan, kann auch nicht-linear und multidimensional gedacht werden. Die Ausstellung von der neuseeländischen Künstlerin behandelt alternative Logiken und Erfahrungen von Zeit, angewandt auf den Museumskontext. In der Debatte zu «From what point does the contemporary begin?» wird intensiv über das Zeitgenössische diskutiert. Was bedeutet zeitgenössisch und in welcher Zeitspanne befindet es sich? Die Gegenwart kann nicht generell in einen klaren Zeitabschnitt eingegrenzt werden. Dazu kommt, dass sowohl Vergangenheit wie auch Zukunft nicht ausserhalb des Jetzt existieren. Nur von hier aus, kann «zurück» oder «nach vorne» geschaut werden. Doch ist die Gegenwart überhaupt noch gegenwärtig, wenn sie gesammelt und somit musealisiert wird? Räumlich-geographisch wurden die Grenzen des Gegenwärtigen noch klarer gezogen: Was wir als zeitgenössische Kunst zu sehen bekommen, sind meist überdimensionierte abstrakte Werke aus Europa und Nordamerika. Buchanan und das Ausstellungsteam bleiben mit der lokalen Geschichte verbunden. In «Heute Nacht geträumt» haben sie entschieden, dass das Zeitgenössische ab 1982 beginnt. Ab diesem Jahr hatte das Museum für Gegenwartskunst die zweijährige Aufbauphase abgeschlossen und sich erstmals auf das Ausstellen konzentrieren können.

Die Relevanz solcher Hintergrundinformationen für ein Verständnis des Gezeigten ziehen sich durch die gesamte Ausstellung. «Heute Nacht geträumt» kann durch die Kontexteinbettung auf mehreren Ebenen verstanden werden. Die Künstlerin versucht das altbekannte lineare Zeitverständnis umzudenken, indem beispielsweise ein Video im Raum 1989-1991 ausgestellt wird, da es in dieser Zeitspanne vom Museum angekauft wurde. Das noch ältere Entstehungsjahr des Kunstwerks fällt allerdings aus diesem Zeitabschnitt heraus. So können Widersprüchlichkeiten aufgezeigt und festgesetzte Linien aufgebrochen werden.


Zeit ist körperliche Erfahrung

Buchanan möchte die Ebenen Zeit und Raum zusammendenken, wobei auch Körper eine wichtige Rolle spielen. Ein Beispiel für diese Vernetzung ist das Anstreichen der Wände, je nach Stockwerk in einer anderen Höhe. Als Farbe wurde violett gewählt. Für die Höhe der Wandfarben orientierte sich Buchanan an ihrem eigenen Körper, ein Stockwerk wurde beispielsweise auf Hüfthöhe der Künstlerin gestrichen. Die prägnante Wandfarbe nimmt mit jedem zusätzlichen Stockwerk mehr Raum ein. Time is body. Besuchende können sich in unterschiedlichen Zeiten bewegen, indem sie physisch die Etagen wechseln. Dieses fluide Gefühl wird durch den unterirdischen Bach im Museumsareal gestärkt.

Viele grosse Fragen stehen im Raum, wenn es darum geht, eine zeitgemässe und reflektierte Ausstellungspraxis zu entwickeln. Was macht ein zeitgenössisches Museum aus? Wie können die Komponenten Zeit, Raum und Körper in einer Ausstellung zusammengedacht werden? Inwiefern stellt der Umgang mit Zeit in einem Gegenwartsmuseum eine Herausforderung dar? Ruth Buchanan setzt sich in der Ausstellung «Heute Nacht geträumt» intensiv damit auseinander, Antworten auf solch komplexe Sachverhalte zu finden. So wie ich das wahrnehme, sind dabei klare Antworten nie das Ziel gewesen. Allein die Auseinandersetzung und Hinterfragung von verfestigten Strukturen im Museum hilft, zu einer neuen Perspektive zu gelangen. Buchanans individuelle Umsetzung ihres Verständnisses von Zeit, ihre Einteilungen und Entscheidungen sind Teil einer neuen Herangehensweise in der Museumspraxis. Ob Ruth Buchanans Ansatz des Kuratierens eine Chance hat, zukünftig auch verbreiteter Halt in der Gestaltung von Ausstellungen zu finden, bleibt abzuwarten.


Bild: Projektskizze der zweiten Etage zur Ausstellung „Heute Nacht geträumt“, Ruth Buchanan, 2020. ©Die Künstlerin.

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