Ein Rückblick auf die Vernissage der Ausstellung «Heute Nacht geträumt» von Christiane Gölly und Christina Zinsstag. Dieser Beitrag wurde im Rahmen des Seminars «Wessen Wissen? Wessen Kunst? Situiertheit, Materialität und Kritik» bei Dominique Grisard verfasst. Er ist Teil der Blogserie «Heute Nacht geträumt».
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Die Ausstellung «Heute Nacht geträumt» im Kunstmuseum Basel | Gegenwart wurde am 18.03.2022 im Rahmen einer Vernissage eröffnet. Das klingt im ersten Moment nach nichts Besonderem oder Neuem, tatsächlich war diese Vernissage einer der ersten wieder abgehaltenen Veranstaltungen seit Ausbruch der Covid-19-Pandemie. Dies war auch den Besucher*innen anzumerken. Der Einladung nach sollte die Vernissage um halb 7 vor dem Museum stattfinden, die Besucher*innen hielten sich jedoch nahezu gesammelt im Foyer des Kunstmuseums Basel | Gegenwart auf. Im ersten Moment könnte dies dem Wetter (es regnete) zugeschrieben werden. Bei genauerem Beobachten und Zuhören der Menschen wurde allerdings schnell klar, dass grosse Verunsicherung herrschte.
«Sind wir hier richtig?» «Sollen wir nicht draussen warten?» «Wann fängt es an?» «Warten wir einfach mit den anderen hier.»
Viele solcher Aussagen und Fragen konnte mensch vor Beginn der Eröffnung vernehmen. Auch ich selbst fand mich in einer ähnlichen Situation wieder: Darf ich vor der Eröffnungsrede bereits einen ersten Blick durch die Ausstellung wagen? Ich entschloss mich dazu, die Eröffnungsrede abzuwarten, dies, obwohl ich beobachten konnte, dass vereinzelt Besucher*innen bereits durch die Ausstellung gingen. Dennoch verspürte ich, wie offenbar auch andere Besucher*innen, eine innere Hemmschwelle.
Nun gut, ein Blick auf die Uhr zeigte, dass die angegebene Anfangszeit bereits überschritten worden war. Die angesammelte Menschenmenge wurde mit jeder Minute unruhiger, bis schliesslich alle den Weg nach draussen fanden. In diesem Augenblick wurde die Ausstellung offiziell eröffnet. Eine der vier zentralen Fragen, mit welchen die Künstlerin Ruth Buchanan die Ausstellung strukturierte, wurde in diesem Anfangsszenario bereits unbeabsichtigt von den Besucher*innen selbst gestellt: Where does my body belong?
«Wo sollen wir uns hinstellen?» «Wo wird die Ausstellung eröffnet?» «Wohin ist uns der Zutritt gewährt?»
Eine weitere dieser zentralen Fragen beantwortete sich im Laufe des Abends ebenfalls teilweise von selbst: Was bedeutet Gegenwart?
Wir befinden uns im Kunstmuseum für Gegenwartskunst. Was bedeutet dies nun? Das Museum wurde in den frühen 1980er Jahren eröffnet. Heisst dies nun, Kunst ab den 80er Jahren zählt als Gegenwartskunst? In einem interessanten Gespräch mit einer anderen Person, die die feierliche Eröffnung ebenfalls besuchte, kamen wir zum Entschluss, dass wir uns selbst in diesem Augenblick in der Gegenwart befinden und uns Werke aus bereits vergangenen Gegenwarten ansehen. Auch kam im Rahmen dieses Gesprächs die Frage auf, ob wir uns die Frage nach der Definition der Gegenwart noch stellen müssen? Gegenwartskunst ist ein von uns Menschen geschaffener Begriff, um unser geliebtes «in Kategorien denken» zu erleichtern. Dabei galt historisch gesehen allerdings nicht alles, was zeitgenössisch war auch tatsächlich als der Gegenwart zugehörig – geschweige denn als Kunst. So wurde für Kunst, die ausserhalb von Europa und Nordamerika geschaffen wurde, ethnologische Museen geschaffen und ihre Arbeiten wurden als «urtümlicher» und «primitiver» als die der «westlichen Zivilisationen» dargestellt. Nicht allen Menschen auf dieser Erde wurde – und wird auch heute noch – ihre Zeitgenoss*innenschaft auch anerkannt.
Anders gesagt: Menschen aus sogenannten «Entwicklungsländern» wurden – wie mit diesem Begriff gerade sehr schön deutlich wird – zu Mitgliedern der Vorgeschichte der sogenannt «zivilisierten Länder» gemacht. Dies führt uns zur dritten und vierten Frage, welche die Ausstellung von Buchanan strukturierten: Welche Geschichte wird gezeigt? Und: Wer sind alle? In der Ausstellung wurde hierbei des Öfteren die Unterteilung in männliche und weibliche Geschichte vorgenommen: Die eine, männlich markierte, Geschichte wurde/wird gezeigt, die andere, weiblich markierte, Geschichte wurde/wird unsichtbar gemacht. Zum Beispiel dadurch, wessen künstlerische Werke gesammelt wurden/werden, wer ausgestellt wurde/wird, wessen künstlerische Stimme als relevant betrachtet wurde/wird, usw. Auch hier ist nach wie vor ein Ungleichheitsverhältnis zu spüren.
Doch kann nicht gerade aus dem Fehlen einer dieser Kategorien von einer indirekten Geschichtsschreibung gesprochen werden? Das Nicht-Vorkommen in der Geschichtsschreibung verkörpert doch eine sehr eindeutige, gesamthafte Geschichte: Nämlich die Geschichte von Machtverhältnissen und wie diese unsere historische Wahrnehmung strukturieren. Länder der sogenannt «zweiten» und «dritten Welt» – um zum Anfang des oberen Absatzes zurückzukehren – hinken demnach nicht der «ersten Welt» hinterher. Nein. Sie sind das Produkt der globalen Machtverhältnisse der vergangenen Jahrhunderte, wie es diese «erste Welt» auch ist, die so reich wurde und sich «weiterentwickeln» konnte, weil sie dominieren und kolonisieren und ausbeuten konnte und kann. Welche Geschichte gezeigt wird, also wer in der Geschichte vorkommt und wem überhaupt eine Geschichte und damit auch Entwicklungsvermögen zugestanden wird, hat also in erster Linie mit Machtverhältnissen zu tun. «Alle» schliesst dabei immer einige aus, beziehungsweise schliesst sie nur ein, wenn sie klar als «anders» markiert wurden.
Die letzte von Buchanans vier Fragen beschäftigt sich schliesslich damit, ob die Besucher*innen wiederkommen werden und was es dazu braucht, damit sie wiederkommen. Einige verstanden dies als Frage danach, ob mensch selbst in diese spezifische Ausstellung wiederkommen wird oder möchte, andere dachten hierbei schon weiter, im Speziellen, was es braucht um dieses Museum (und hier eventuell andere Ausstellungen) erneut zu besuchen. Einige konkrete Beispiele – für beide Fälle – kamen dabei auf und wurden zum Teil in der Ausstellung auch umgesetzt: Mehr bequeme Bänke in der Ausstellung, weniger weisse Wände, einen weniger einschüchternden und strikten Verhaltenskodex, ein gemütliches Café, mehr Raum für Unvorgesehenes und Spontanes, kurz: weniger care für die Kunstwerke, mehr care für die Menschen, die das Museum besuchen.
Die vier Fragen, welche die Ausstellung strukturierten und einen durch sie hindurch begleiteten, bewirkten, dass mensch sich mit sich selbst und der eigenen Position bzw. Positionierung in der Welt beschäftigte. Das finde ich doch sehr gelungen, gerade im Hinblick auf die damit bezweckte Standortbestimmung des Kunstmuseums Basel | Gegenwart und seiner Rolle in der Gesellschaft.
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Das «ich» des Textes bezieht sich auf Christiane Gölly, von welcher die Rohfassung des Textes stammt. Christina Zinsstag war für die Redaktion des Textes zuständig, wobei die Zusammenarbeit ausgeweitet wurde.
Bild: «Spiral Time» 2022, Ruth Buchanan mit Museumspersonal. Foto: Jonas Hänggi, Kunstmuseum Basel | Gegenwart. ©Ruth Buchanan. Die Installation kann nach wie vor im dritten Stock des Museums besichtigt werden.