Kunst, Politik, Rückblick, Veranstaltung

Warum wir uns an Unrecht erinnern müssen – und was es mit unserer Gegenwart zu tun hat

Von Sophie Bürgi. Ein Rückblick auf die Veranstaltung «Die Gegenwart der Geschichte – Eine Debatte über Erinnerung, Kritik und Demokratie» im Kunstmuseum Basel vom 18. Januar 2023.


Eine kritische Auseinandersetzung mit Erinnerung und ihrer Bedeutung für unsere Gegenwart– dieses Thema scheint viele Menschen umzutreiben. Das Eventfoyer im Neubau des Kunstmuseums ist gut besucht an diesem Januarabend. Letzte Gäste huschen noch die Reihen entlang, um einen Platz zu ergattern, als das Podium eröffnet wird. 

Erinnerung – ein politisches Thema

Wer wird in unserer Gesellschaft erinnert, und wem gebührt kein Platz in der gemeinsamen Erinnerung? Wer wird ausgeschlossen, wer ins Zentrum gerückt im Gedächtnis der Schweiz? Welche Geschichte(n) erzählen wir uns als Gesellschaft uns gerne, machen uns stolz, und welche verschweigen wir lieber? Und warum ist es so schwierig, einzugestehen, dass wir als Nation, als Institution oder als Individuum an Unrecht beteiligt waren?

Andrea Zimmermann (art of intervention) diskutiert diese und weitere Fragen gemeinsam mit Prof. em. Andrea Maihofer (Zentrum Gender Studies, Universität Basel), Jakob Tanner (Universität Zürich) und Felix Uhlmann (Universität Zürich). Die Runde bespricht während rund 90 Minuten, wie wir in unserer Gesellschaft Unrecht erinnern können – und sollten -, um Ausgrenzungen in der Gegenwart entgegenzutreten. Nicht zuletzt geht es dabei auch um die Frage, welche Rolle hierbei kulturelle Institutionen wie das Kunstmuseum spielen.

Nennen wir das Unrecht beim Namen

Erinnerung aus juristischer Sicht – diese Perspektive bringt Felix Uhlmann ein. Obwohl die Rechtsprechung durchaus an gesellschaftliche, moralische Werte gebunden ist, gestaltet sich die juristische Aufarbeitung historischen Unrechts schwierig, wie Uhlmann ausführt. Beurteilt wird nämlich nach dem Recht, das zum Zeitpunkt der Tat galt, und es gibt ein juristisches Recht auf Vergessen – die Verjährung.

Dem stellt die Geschlechterforscherin Andrea Maihofer entgegen, dass durch die Menschenrechtskonvention von 1950 ein wichtiges Instrument geschaffen wurde, um historisches Unrecht zu beurteilen – langfristig, übergesellschaftlich und international. Eine historische Tat als Unrecht anzuerkennen, setzt nach Maihofer eine wichtige Veränderung unserer Normen in Gang. Durch die Anerkennung von Unrecht in der Geschichte können wir als Gesellschaft heutiges Unrecht besser verstehen, einordnen und dagegen angehen. Deshalb ist es zentral, dass wir vergangenes Unrecht (wie beispielsweise der Ausschluss der Frauen vom Schweizer Stimm- und Wahlrecht) als solches klar benennen. Nur so können wir seine Fortführung verhindern.

Die Podiumsdiskussion im Neubau des Kunstmuseums Basel. Von links nach rechts: Andrea Maihofer, Jakob Tanner, Andrea Zimmermann und Felix Uhlmann. Foto: ©Sophie Bürgi.


Aktives Vergessen – Aktives Aufarbeiten

Unsere Geschichte ist voller Momente, Menschen oder Werke, die vergessen wurden – oder, genauer gesagt, verdrängt, wie Andrea Zimmermann während der Diskussion betont. Vergessen ist, wie sie erläutert, genau wie das Erinnern, ein aktiver Prozess. Diese Erkenntnis nimmt uns Erinnernde in die Verantwortung.

Dieser Spur folgt auch der Historiker Jakob Tanner, wenn er darauf hinweist, dass für unsere Gesellschaft das Erinnern zur Pflicht wurde durch das Unrecht, das im zweiten Weltkrieg marginalisierten Menschen und politischen Gegner*innen der Nazis angetan wurde. Erst einige Jahrzehnte später erlebte die Schweiz eine Rückkehr des Verdrängten: Zu spät wurde das Unrecht, an dem die Schweiz im 2. Weltkrieg beteiligt war, aufgearbeitet, meist zudem nur auf Druck von aussen. Beispiele hierfür sind die als «nachrichtslos» deklarierten Vermögen jüdischer Menschen auf Schweizer Banken oder das Abweisen von Flüchtenden an der Grenze während dem 2. Weltkrieg.

Eine Möglichkeit, kritisch das von der Schweiz getane Unrecht zu erinnern, sind die Stolpersteine, für die sich Tanner engagiert. Durch die an der Strasse angebrachten Gedenksteine werden beispielsweise Geburtshäuser von jüdischen Menschen sichtbar, die an der Grenze abgewiesen und in Deutschland von den Nazis ermordet wurden. Dies macht deutlich, dass die Schweiz kein «neutraler» Ort war in dieser Zeit, und hilft uns als Gesellschaft, gegen das Vergessen der Opfer des Faschismus anzugehen.

Kunstkäufe im Nationalsozialismus – und die Erinnerung daran

In der Ausstellung «Zerrissene Moderne. Die Basler Ankäufe ‹entarteter› Kunst» wird eine Aufarbeitung der Geschichte von Werken des Kunstmuseums präsentiert, deren Ankauf in der Zeit des Nationalsozialismus stattfand. 1939 erwarb der damalige Direktor Georg Schmidt des Kunstmuseums 21 Kunstwerke, die vom Naziregime als «entartet» diffamiert und aus Deutschen Museen entfernt worden waren. Diese Kunstwerke waren als «international verwertbar» eingestuft worden und wurden verkauft – zum Beispiel ans Kunstmuseum Basel. Andere Werke, die nicht als verwertbar eingestuft wurden, wurden der Zerstörung oder dem Vergessen anheimgegeben. Der damalige Ankauf begründete die heute herausragende Sammlung zur Moderne, die das Basler Kunstmuseum vorzuweisen hat.

Wie lässt sich die Ambivalenz dieser historischen Zusammenhänge und ihrer Folgen angemessen darstellen? Maihofer sieht die Ausstellung «Zerrissene Moderne» als gutes Beispiel dafür, wie eine selbstkritische Auseinandersetzung mit Erinnerung und der Herkunft von Werken vorgenommen werden kann. So wurden die «Washington Principles on Nazi-Confiscated Art» von 1998 auch von Schweizer Museen unterzeichnet, wie Jakob Tanner ergänzt. Sie bieten Unterstützung und Leitlinien in der Frage, wie mit Kunstwerken umgegangen werden soll, die durch gewaltsame Akte von Nationalsozialist:innen auf den Markt kamen und in Museen auf der ganzen Welt verteilt wurden.

Dem Museum gelingt mit dieser Ausstellung, eine ausführliche, kritische Selbstreflexion öffentlich durchzuführen. Sie löst bei den Besuchenden dabei allerdings mehr Fragen aus, als sie Antworten bieten kann. Welche Konsequenzen hat diese Selbstreflexion für das Haus? Es ist komplex und das gilt es auszuhalten – so scheint die Antwort der Ausstellung zu lauten.

Links: «La prise (rabbin)» von Marc Chagall, 1923–26. Öl auf Leinwand. ©Pro Litteris, Zürich.Kunstmuseum Basel, mit einem Sonderkredit der Basler Regierung erworben. Foto: Martin P. Bühler. Rechts: Auktion Theodor Fischer, Luzern 1939: Blick in die Auktion der Galerie Fischer während der Versteigerung von Marc Chagalls „La prise (rabbin)“, Luzern 1939. Fotografiert von Gotthard Schuh. ©Fotostiftung der Schweiz.


Erinnernd Verantwortung übernehmen

Andrea Maihofer wirft in der Diskussion immer wieder die wichtige, aber auch etwas unangenehme Frage auf, warum wir uns denn als Gesellschaft und als Individuen so schwer damit tun, für Unrecht in der Geschichte Verantwortung zu übernehmen – und es als Unrecht zu benennen. Sie erklärt dies mit einem positiven Selbstverhältnis, das zentral ist, sowohl für unser Selbst wie auch für uns als Nation. Unkritischer Nationalstolz verhindert es jedoch, einen konstruktiven Umgang mit (kollektiv) begangenem Unrecht zu entwickeln und die Frage, wie zukünftiges Unrecht vermieden werden kann, gesellschaftspolitisch voranzutreiben. Das Eingeständnis, an Unrecht mitgewirkt und davon profitiert zu haben – beispielsweise am kolonialen Handel mit versklavten Menschen – hat in diesem positiven Selbstbild keinen Platz. Maihofer plädiert dafür, dass wir für unsere Geschichte Verantwortung übernehmen, um in der Gegenwart verantwortungsbewusst handeln zu können. Nur wenn wir zum Beispiel die Beteiligung der Schweiz an der lebensvernichtenden Sklaverei nachvollziehen und als Unrecht anerkennen, können wir auch heutigen rassistischen Strukturen nachhaltig und reflektiert entgegenwirken.

Das Unrecht als Teil unserer Geschichte anerkennen

Die Änderung des Bildes, das wir von uns und unserer Geschichte haben, ist kein leichtes Unterfangen. An diesem Abend scheint mir die wichtigste Erkenntnis zu sein, dass kritisches Erinnern zentral ist, um letztlich unser Selbstbild grundsätzlich zu ändern: Fehler und Unrecht müssen darin Platz haben. Nur wenn wir uns selbst und unsere Geschichte in all dieser Ambivalenz (an)erkennen und reflektieren, ist es möglich, dass wir Ausgrenzung und Unrecht in der Gegenwart entgegentreten können. Museen können Orte für eine solche Selbstreflexion sein, in dem sie ihre Geschichte kritisch betrachten und öffentlich zugänglich machen. Sie können Orte des Nachdenkens, Nachfragens und Neuanordnens sein, die uns ermächtigen, uns selbst und unser Erinnern mitsamt unseren Privilegien zu reflektieren und dafür Verantwortung zu übernehmen.


Sophie Bürgi treibt schon lange die Frage um, wer in unserer Gesellschaft (nicht) erinnert wird. Seit 10 Jahren setzt sie sich beim Verein Frauenstadtrundgang Basel dafür ein, Geschlechtergeschichte einem breiten Publikum zugänglich zu machen und daran mitzuwirken, dass nicht nur die privilegierten Geschichten der Stadt sicht- und hörbar sind. Sie hat Gender Studies und Deutsche Literaturwissenschaft an der Uni Basel studiert und in ihrer Masterarbeit kreative Formen des Erinnerns in autobiografischen Comics untersucht.

Beitragsbild: Ebenfalls teil der Ausstellung war das Bild «Vorabend (Marschlandschaft)» von Emil Nolde, 1916. ©Nachlass des Künstlers. Kunstmuseum Basel, mit einem Sonderkredit der Basler Regierung erworben. Foto: Martin P. Bühler.

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