Kunst, Rückblick, Veranstaltung

(Zu) nah gegangen?

Von Lea Dora Illmer. Ein Rückblick auf «L’Homme rare» von Nadia Beugré am 10. Februar in der Kaserne Basel.

Ich sage es gleich zu Beginn: «L’Homme rare» war in vielerlei Hinsicht eine Premiere für mich: Mein erstes Stück von Nadia Beugré, das erste Mal so viele nackte Männer so nah und ich war noch nie zuvor bei einer Tanzperformance. Viele erste Male, viele Unsicherheiten. Was erwartet mich, was erwarte ich von einem Stück, das – wie die Ankündigung verspricht – «die Wahrnehmung von männlichen und weiblichen Körperattributen» völlig durcheinanderbringt, «Gender gänzlich in Frage stellt» und die Zuschauenden ihrem Voyeurismus ausliefert – mit Fokus auf den europäischen Blick auf Schwarze Körper? Ich habe, gelinde gesprochen, Angst. Diese legt sich nicht, als ich einen Platz in der vordersten Reihe zugewiesen bekomme.

Es beginnt spektakulär: Überraschend laute Musik schallt aus der Dunkelheit, die sodann erleuchtet wird. Die Bühne ist leer – bis auf zwei verlorene Paar sehr hohe rote Stöckelschuhe und einen weissen Wäscheberg. Die (zu diesem Zeitpunkt noch) bunt bekleideten Tänzer betreten den Raum. Ich spüre und höre, dass sie da sind, bevor ich sie sehen kann. Sie bahnen sich von hinten über die Tribüne durch das Publikum hindurch den Weg. Eilig haben sie es nicht. Wo es ihnen gefällt, verweilen sie, interagieren mit den Menschen, tanzen sie an, tanzen mit ihnen, fordern sie dazu auf, bieten ihre Hände dar. Ein paar der Zuschauenden bleiben beschämt sitzen, ein paar stehen auf, ein paar Mutige werden schliesslich von den Tänzern bis auf die Bühne gelockt. Es ist zu diesem Zeitpunkt mehr Party als Performance.

Ich fürchte mich davor, auf die Bühne geholt zu werden. Obwohl ich zum Zeitpunkt des Spektakels bereits zwei Montagabende in einer zeitgenössischen Tanzstunde verbracht habe, fühle ich mich unwohl dabei, mich vor Menschen (insbesondere fremden Menschen) bewegen zu müssen. Ich krame mein Blöcklein hervor und meinen Stift, tue beschäftigt. Es hilft. Die Personen links und rechts von mir werden beide auf die Bühne gebeten, ich darf sitzenbleiben. Allmählich kehrt Ruhe ein, die Musik wird gemächlicher, die Abtrünnigen kehren auf ihre Plätze zurück. Ich atme auf.

Dann beginnt die grosse Entkleidung. Tanzend werden Kleidungsstücke abgelegt, verworfen, herumgeschleudert, zweckentfremdet. Unterhosen landen auf Köpfen, Hemden um Hüften. Irgendwann (nach nicht sehr langer Zeit) sind alle nackt. Ab diesem Moment, so scheint es mir, sehen wir keine Gesichter mehr, sondern fünf Tänzer von hinten. Oder sollte ich sagen: Fünf tanzende Körper. Denn um diese geht es hier, mit allen Sinnen. Eine Sin(n)fonie beginnt, sie besteht aus Körperklatschen, Schmatzen, Prusten. Körper werden von Körpern verfolgt (gejagt?), berührt, inspiziert. Ich fühle mich stellenweise an Kinderspiele – wie Fangen – erinnert, dann wieder an sexuelle Praktiken, wenn Körper sich dicht hintereinander drängen, Hände krallen, greifen, klapsen. Ich denke an: Eine Fluterfahrung. Überfluten. Meine Sinne sind überflutet. Ich weiss nicht, wohin ich schauen, hören, spüren soll. Die tanzenden, schwitzenden, spannungsgeladenen Körper sind nah, zu nah. Für mich. Mir. Ich rieche ihren Schweiss.


Es folgt ein Bruch – Der Schwarm, der Schwarmkörper löst sich auf. Einer der Tänzer sondert sich ab, zieht das erste Paar rote Lackschuhe an, nimmt das Mikrofon, beginnt zu singen. Die anderen tanzen. Im Zentrum bleiben: Hintern und Hüften. Die sogenannte Körpermitte. Die Tänzer führen in der Tat beinahe all ihre Bewegungen aus der Hüfte aus. So erläutert auch die Stückbeilage, dass die Choreografie von Tanztechniken und -stilen inspiriert sei, «die vor allem das Becken und das Gesäss nutzen, währen die Gesichter der Tänzer im Verborgenen bleiben». Gesichtslose, in gewisser Weise anonymisierte, nackte Körper zu betrachten, verstärkt das voyeuristische Gefühl um ein Vielfaches. Ich empfinde ein Unbehagen. Gleichzeitig kann und will ich nicht wegschauen, sondern stattdessen meinen Blick fixieren. Ich schaue ganz genau, empfinde eine Aufregung dabei. Eine Schaulust. Darf ich das? Als (bezahlende) Zuschauerin? Als Frau? Und was bedeutet es, dass mein Blick allem voran ein weisser ist, der Schwarze Körper und Körper of Color betrachtet?

Es ist, der Beilage zufolge, die Absicht der Choreografin, solche Reflexionen anzuregen. Ein Unwohlsein auszulösen. Die in der Tanz-Performance angedeuteten und im Text explizit ausformulierten Verweise auf Sklavenmärkte der Elfenbeinküste betonen auch die historische Dimension des europäischen, kolonialen Blicks. Hier bekommt das oben beschriebene Untersuchen des Körpers eine weitere Dimension, die nicht etwa kindlich oder sexuell, sondern rassistisch objektivierend ist: Die Behandlung – und eben auch Betrachtung – menschlicher Körper als Ware und als Werkzeug, gerechtfertigt durch rassistische Narrative. Ich erinnere mich an die Essaysammlung «Allein» und die darin zitierte Beobachtung, dass das Vergangene niemals wirklich vergangen ist:

Das, was einmal gewesen ist, schreibt der französische Soziologe Pierre Bourdieu, sei nicht nur für immer in unsere Historie eingeschrieben, sondern ebenso ‘in das gesellschaftliche Sein, in die Dinge und auch die Körper’.»

Schreiber 2021, S. 102

Ich finde keine endgültigen Antworten auf meine Fragen. Aber ich fühle sie. Auch während den humoristischen Frequenzen. Etwa dann, als sich die Körper in twerkende, weisse Dreieckszeltli verwandeln, oder als einer der Tänzer – einen High-Heel auf dem Kopf und der zweite über den Penis gestülpt – an ein sonderbares Einhorn erinnert. Das Unbehagen bleibt.


Ganz schön viel Homoerotik

Die versprochene Infragestellung von Gender enttäuscht meine Erwartungen. Was an diesen hypermaskulinen, den Schönheitsidealen weitgehend entsprechenden Tänzerkörpern stellt Gender in Frage? Bringt es durcheinander? Ihre Perfektion jedenfalls nicht. Genau so wenig wie ein Mann, der seine Hüften bewegt, ein Mann der High-Heels trägt. «Das ist so 2012», höre ich eine Person danach sagen. Oder liege ich, liegen wir falsch, ist unsere Wahrnehmung überkritisch? Zu gewöhnt an queere Kontexte? An eine eurozentristische Perspektive? Meiner Freundin, die ein paar Reihen hinter mir sitzt, ergeht es ähnlich. «Ein Durcheinander von weiblichen und männlichen Körperattributen?», fragt sie danach verwirrt, «wohl eher eine Zurschaustellung, eine Feier von Homoerotik». Gender oder Geschlechtergrenzen, so sind wir uns einig, werden nicht per se ins Wanken gebracht, höchstens ins Lächerliche gezogen (was durchaus auch eine Möglichkeit sein kann, an ihnen zu rütteln).

Dank dem schlauen Hinweis einer Freundin, Christina Zinsstag, beschleicht mich im Nachhinein der Verdacht, dass mich mein eurozentristischer Blick trügt. Einerseits frage ich mich, was ich in Bezug auf die geschlechtliche Dimension von Sklaverei übersehen habe. Wo habe ich Bildungslücken, fehlt mir das nötige Hintergrundwissen? Ein weiterer Punkt betrifft den Zusammenhang zwischen Geschlechterungleichheit und Kolonialismus in afrikanischen Ländern: Geschlechtliche Unterschiede spielten, wie etwa die Geschlechterforscherin Oyeronke Oyěwùmí in «The Invention of Women» (1997) argumentiert, in (West-)Afrika bis zum Kolonialismus – und der damit einhergehenden Institutionalisierung von europäisch geprägten Geschlechterkategorien – nicht dieselbe Rolle. Gender, wie ich es kenne, ist allem voran ein westliches Konstrukt. Das wird auch in aktuellen, überwiegend weissen feministischen Diskursen oft vergessen. Mir wird bewusst, dass sich die koloniale Geschichte als Teil dessen, was einmal gewesen ist – um nochmal auf Bourdieu zurückzukommen – auch in meinen Körper und mein Sehen einschreibt.

Das Grand Finale des Stücks übertrifft dann wieder meine kühnsten Erwartungen. Die Musik wechselt, der Raum verdunkelt sich, eine Mundharmonika ertönt. Es dauert einen Moment, bis ich begreife, dass diese live gespielt wird. Von niemand anderem als Nadia Beugré selbst. Die es den Tänzern – unterdessen alle mit einem Tuch um die Hüfte – gleichtut. Körpergeräusche, die Klänge der Körperlichkeit werden erneut aufgegriffen und vorgeführt: in Form der nackten, immer wieder auf die Oberschenkel klatschenden Brüste der Choreografin. Sie spielt währenddessen weiter die Mundharmonika. Es ist beeindruckend; allein sie dabei zu beobachten bringt mich ins Schwitzen. Als die Tänzer zusammen mit Beugré immer wieder auf die Bühne rennen, um den überbordenden Applaus zu empfangen, bin ich euphorisiert. «Eine Frau, die sich mit grossen, nackten Brüsten so frei bewegt, ist immer noch revolutionär», stellt meine Freundin später fest. Ich stimme ihr zu.


Nadia Beugré wurde 1981 in der Elfenbeinküste geboren und zuerst in traditionellem Tanz ausgebildet. Sie ist Gründungsmitglied des aus Frauen bestehenden Ensembles TchéTché. Als sie sich später dem modernen Tanz widmet, nimmt sie Choreografieunterricht bei Germanie Acogny in Senegal und am Centre Choréographique National de Montpellier. Mit Libr’Arts hat Beugré ihre eigene Tanzkompagnie gegründet, die als Trainigs- und Produktionsplattform zwischen Frankreich und der Elfenbeinküste fungiert.

Lea Dora Illmer ist Geschlechterforscherin, freie Autorin und Lektorin. Ihre Masterarbeit hat sie zur sogenannten Frauengesundheitsbewegung in der Schweiz geschrieben. Sie ist Mitbegründerin des Vereins FKK (Feministische Kulturkritik).


Bild: «L’Homme Rare» von Nadia Beugré in der Kaserne Basel. Foto: ©Ruben Pioline (zugeschnitten).

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