Von Sophie Bürgi. Ein Rückblick auf das Theaterstück «Magda Toffler. Versuch über das Schweigen» von Boris Nikitin und das anschliessende Publikumsgespräch vom 24. März in der Kaserne Basel.
Ein leerer, dunkler Raum mit nur einem Stuhl, den die Scheinwerfer beleuchten. Ein Mann, der darauf Platz nimmt, schwarz-weiss gekleidet, wie die Blätter, von denen er liest. Wenig emotionale Anhaltspunkte gibt uns Boris Nikitin auf der Bühne, die als Schauplatz einer ganz persönlichen Geschichte dient: Der Entdeckung, dass seine Grossmutter Magda Toffler Jüdin war, er somit ebenfalls jüdisch ist, und der Suche nach Gründen für die Sprachlosigkeit über ihre jüdische Identität.
Rund eine Stunde hört und schaut das Publikum gebannt zu, wie Nikitin die autobiografische Geschichte vorliest und performt. Die Inszenierung dieses «Versuchs über das Schweigen» ist minimalistisch – das Vorlesen der bedruckten Blätter durch den Erzähler, der gleichzeitig Hauptfigur der Geschichte ist, erhebt die Illusion von Fakten, von Wahrheit, von Objektivität. Immer wieder wird diese Illusion aber durchbrochen, durch Stottern des Vorlesers, durch inhaltliche Verweise darauf, wie er als Künstler dem Dokumentarischen misstraut, und durch Hinweise auf die Unzuverlässigkeit des Erzählers, der dazu steht, sich nicht immer an alles genau zu erinnern.
Magda Toffler war die erste Professorin der Chemie in der Tschechoslowakei – eine starke Frau und wichtige Bezugsperson für ihren Enkel. Nikitins Besuche bei ihr waren sehr bestärkend für ihn, wie er erzählt. Die Reisen zu ihr waren für ihn Momente des Loslassens, der Unabhängigkeit. Sie war eine der ersten, bei denen sich Nikitin als schwul geoutet hatte. Umgekehrt war es für die Grossmutter nicht möglich, sich bei ihm oder dem Rest ihrer Familie als jüdisch zu «outen»: Sie konnte oder wollte niemanden ihr Jüdisch-Sein und die damit verbundenen Erfahrungen von Gewalt eröffnen. Erst nach ihrem Tod wurde Nikitin durch den Brief der Cousine der Grossmutter aus Tel Aviv die Information zugänglich, dass seine Grossmutter jüdisch war. Er erfuhr, dass sowohl Magda Toffler wie auch ihr Mann aus jüdischen Familien stammten, die zum Christentum konvertiert hatten.
Gerne hätte er als Enkel zu Lebzeiten mit seiner Grossmutter über ihre Erfahrungen während des Zweiten Weltkriegs gesprochen. Auf Nikitins Fragen antwortete Magda Toffler jeweils nur, das Sprechen über den Krieg mache sie depressiv – sie wollte oder konnte nicht darüber Auskunft geben. Sie sprach nicht darüber, wie sie sich in den Jahren 1944 und 1945 monatelang in einer Scheune in der Ostslowakei verstecken musste, um zu überleben. Sie erzählte nur, dass ihr Vater nach Buchenwald deportiert wurde, weil er Partisan*innen Medikamente gegeben hatte. Diese Information wiederholt sich im Stück – sie ist ein Fragment davon, was an Erinnerung weitergeben wurde. Kurz vor ihrem Tod scheint Magda Tofflers Geschichte dann aus ihr herauszubrechen: Als Nikitin sie in der Klinik in Bratislava besucht, wo sie später stirbt, interpretiert sie das Bellen eines Hundes als Zeichen eines Wachhundes des Lagers. Ein Ausbruch der Erinnerung aus dem Schweigen und dem Verdrängen.
«Ich vergesse nichts», sagte die Grossmutter immer wieder zu ihrem Enkel. Sie muss sich ihrer Geschichte, und den traumatischen und schwierigen Anteilen darin, sehr bewusst gewesen sein. Ihr schweigendes Erinnern schuf – so berichtet ihr Enkel – eine Distanz zu ihren Mitmenschen und ihrer Familie. Sie wollte oder konnte ihre jüdische Identität und die traumatischen Ereignisse des Krieges nicht teilen.
Nikitins Theaterstück macht die Historizität dieser Familiengeschichte, die gesellschaftliche Aspekte der persönlichen Erzählung, explizit. Das Stück steigt ein mit einem historischen Ereignis: Der Versammlung der Gauleiter 1943, in der Heinrich Himmler die Ermordung der jüdischen Bevölkerung kommunizierte. Warum wurde diese im Geheimen stattfindende Sitzung durch zwei Aufnahmegeräte aufgezeichnet und somit in das Gedächtnis der Geschichte eingeritzt? Um das komplizenhafte Schweigen der Anwesenden zu dokumentieren, das für das historische Unrecht des Holocaust nötig war, so eine Antwort des Stücks darauf. Niemand der Mächtigen erhob seine Stimme – Schweigen als Zustimmung zur Norm, als eine Bestärkung der gewaltvollen Herrschaftsverhältnisse. Auch das Ende des Stücks nimmt Bezug auf die aufgezeichnete Rede von Himmler und schliesst mit einer Reflexion zum widerständigen Durchbrechen der Stille.
Zwei grosse Eindrücke hat das Stück bei mir hinterlassen: Einerseits die Reflexion darüber, wie Herrschaftsverhältnisse Menschen zum Verstummen bringen, ihnen die Sprache und den Raum für das Teilen ihrer Erfahrungen und Identitäten rauben. Andererseits das Potential des Autobiografischen, Räume zum Teilen von Erinnerungen zu schaffen und kritisch zu gestalten. Dies wird auch im Publikumsgespräch im Anschluss des Stücks deutlich, das Andrea Zimmermann und Dominique Grisard moderieren.
Andrea Zimmermann kommentiert, wie das Stück dem Publikum ermöglicht, sich selbst in Beziehung zu setzen und Bezüge zur eigenen Geschichte herzustellen. Die Publikumsteilnehmer*innen teilen ihre Erfahrungen von familiärem Schweigen – einige der Anwesenden haben ebenfalls erst spät von ihren jüdischen Wurzeln erfahren. Durch den starken Antisemitismus, der Europa auch noch nach Ende des Zweiten Weltkriegs dominierte, ist es kaum verwunderlich, dass dieser Teil von Familiengeschichten und Identität nicht sichtbar gemacht oder geteilt wurde, als Schutz vor Hass und Ausgrenzung. Nikitins Mutter ist im Publikum anwesend und berichtet, wie schwierig es ist, mit Überlebenden aus der Familie über die traumatische Gewalt des Kriegs zu sprechen. Man spüre, wenn diese Thema für die Betroffenen nicht aussprechbar sei, und respektiere ihr Schweigen darüber.
Manche Fragen bleiben bei mir nach diesem spannenden Abend noch offen. Ist Magda Toffler Subjekt oder Objekt des Stücks ihres Enkels? Ist es in Ordnung, sie nun zu «outen», ihre Erfahrungen zu teilen, die sie (aus welchen Gründen auch immer) nicht geteilt hat? Ist ein Outing als jüdisch vergleichbar mit Nikitins Coming-out als schwuler Mann? Und kann Schweigen nicht auch eine widerständige Praxis sein, wie Dominique Grisard im Publikumsgespräch bemerkt?
Für Virginia Woolf ist das Fernbleiben, Schweigen, sich nicht beteiligen genau sowie der aktive, laute Protest eine widerständige Praxis. In ihrem 1938 erschienen Essay «Drei Guineen» setzt sich Woolf angesichts des Vormarsches des Faschismus in Europa mit der Frage auseinander, wie Krieg verhindert werden kann. Woolf (1987, S. 166) schreibt zum Vorfall von jungen Engländerinnen, die in den 1930er Jahren aus Protest vermehrt der Kirche fernblieben: «Denn es scheint zu zeigen, dass passiv zu bleiben eine Aktivität sein kann; auch die, die draussen sind, dienen uns». Mit «uns» meint sie jene, die widerständig und/oder marginalisiert sind, die Aussenseiter*innen einer Gesellschaft.
Diese passive Form des Widerstands ist gerade für Frauen und marginalisierte Menschen zugänglicher, da Schweigen und Veranstaltungen (oder Institutionen) fernzubleiben «nahezu ohne Schwierigkeiten oder Gefahren» praktiziert werden kann, wie Woolf (1987, S. 164) ausführt. Es gilt also zu unterscheiden, wer in unserer Gesellschaft sprechen kann oder schweigen muss, und in welchem Kontext diese Praxen Widerstand oder Kompliz*innenschaft darstellen. Im Falle der Gauleiter war es ein zustimmendes Schweigen der Herrschenden, das die Ermordung der jüdischen Bevölkerung besiegelte. Bei Magda Toffler erfahren wir vom Schweigen einer marginalisierten Frau, die ihre Geschichte nicht teilen konnte und/oder wollte. Im Stück von Nikitin an diesem Abend erleben wir schlussendlich auf der Bühne das Outen von ihm und seiner Familiengeschichte vor Publikum, um gemeinsam über die gesellschaftlichen und persönlichen Gründe des Schweigens nachzudenken – um zu einem Sprechen über das Schweigen zu gelangen.
Sophie Bürgi treibt schon lange die Frage um, wer in unserer Gesellschaft (nicht) erinnert wird. Seit 10 Jahren setzt sie sich beim Verein Frauenstadtrundgang Basel dafür ein, Geschlechtergeschichte einem breiten Publikum zugänglich zu machen und daran mitzuwirken, dass nicht nur die privilegierten Geschichten der Stadt sicht- und hörbar sind. Sie hat Gender Studies und Deutsche Literaturwissenschaft an der Uni Basel studiert und in ihrer Masterarbeit kreative Formen des Erinnerns in autobiografischen Comics untersucht.
Literatur
Virginia Woolf. Drei Guineen: Essay. Aus dem Englischen von Anita Eichholz. Verlag Frauenoffensive: München 1987.
