Kunst, Veranstaltung

Geschichte im Blick

Von Aline Vogt. Carrie Mae Weems Ausstellung The Evidence of Things Not Seen im Kunstmuseum Gegenwart.



Wenn man durch die polierten Räume des Kunstmuseums Gegenwart schlendert, denkt man selten an die Vergangenheit. Schliesslich trägt das Haus nahe des St. Alban Rheinufers den Bezug zur Gegenwart bereits im Titel. Sicher, bei einzelnen Ausstellungen werden immer wieder historische Bezüge geschaffen, die dem Publikum die Kunst besser zugänglich machen sollen. Allerdings machen sich die wenigsten Besucher*innen Gedanken über die komplexe Vernetzung von Vergangenheit und Gegenwart, von Basel und seiner Geschichte, von uns selbst und der Kunst, die wir betrachten. Selten füllen die historischen Verstrickungen die Räume des ehrwürdigen Gebäudes so umfassend wie in der aktuellen Ausstellung der US-amerikanischen Künstlerin Carrie Mae Weems.

Weems, geboren 1953 in Portland, ist eine der bedeutendsten Stimmen in der zeitgenössischen Kunst und erhält mit der Ausstellung in Basel erstmals die Gelegenheit, ihre Werke einem Schweizer Publikum zu präsentieren. Die Ausstellung erstreckt sich über drei Stockwerke und basiert auf vergangenen Ausstellungen in Stuttgart, Barcelona und London. Ihr Titel, The Evidence of Things Not Seen, beruht auf einem Essay von James Baldwin. Baldwin setzt sich in diesem Text mit einer Serie von Morden an Schwarzen Kindern in Atlanta zwischen 1979 und 1981 auseinander und, davon ausgehend, mit rassistischen Strukturen in der US-amerikanischen Gesellschaft. Wie lässt sich „evidence“ für Dinge anführen, die von einem Grossteil der Menschen nicht gesehen werden können oder wollen? Wie können Spuren von Rassismus und Kolonialismus ans Tageslicht gebracht werden in einer Gegenwart, die sich nicht selten einbildet, nichts mehr mit dieser Vergangenheit zu tun zu haben?

„The Hampton Project“ von Carrie Mae Weems. © bei der Künstlerin.
Courtesy the Artist, Jack Shainman Gallery and Galerie Barbara Thumm. Photo: Gina Folly.


Das Verschweigen vergangener Gewalt als Form von Gewalt

Weems nähert sich diesen Fragen über die Kunst. Der Behauptung, dass es leider, leider, für die Geschichte unterdrückter Gruppen keine Quellen gebe – eine Rechtfertigung, die sowohl von Laien als auch von Historiker*innen ab und zu ins Feld geführt wird, um sich nicht mit der kolonialen Geschichte befassen zu müssen – teilt Weems mit einem beeindruckenden Aufgebot von Archivmaterial eine Absage. Melancholisch-düster schwebt etwas mehr als ein Jahrhundert Schwarzer und indigener, US-amerikanischer Geschichte von der Decke des dritten Stocks im Museum. Weems hat einen Grossteil der Bilder, die sie auf Stoffbahnen gedruckt hat, im Archiv des Hampton Normal and Agricultural Institute in Virginia gefunden, einer Institution, die eine Art Wiedergutmachung durch Bildung an Menschen of Colour in den USA leisten sollte. Tatsächlich aber reproduzierte das Institute koloniale Macht, indem es Schwarzen und indigenen Menschen weisse Wertvorstellungen aufzwang. 

Die sanft eingefärbten Stoffbanner, auf die Weems die Bilder aus dem Institute-Archiv gedruckt hat, legen diese Gewalt nicht auf den ersten Blick offen. Stattdessen laden sie zunächst zu einem Moment des Staunens und Herumgehens ein, bis die Betrachter*innen bemerken, dass zwischen den scheinbar idyllischen Bildern der Arbeit und des Alltags auch eine Szene hängt, in der indigene Menschen zwangsgetauft werden. Auf einem anderen, blau eingefärbten Banner stürzen drei Bisons einen Felsen hinab. Eines der Tiere hat bereits den Halt verloren, scheinbar schwerelos, wie das Banner, das es trägt, schwebt sein Körper im Fall über den Köpfen der Betrachtenden. Die amerikanischen Siedler hatten die Bisons im 19. Jahrhundert fast komplett ausgerottet, um der indigenen Bevölkerung ihre Lebensgrundlage zu entziehen.

Spätestens bei Fotografien des Ku-Klux-Klans auf einer anderen Stoffbahne wird klar, dass es hier nicht um ein glorreiches Wiederaufdecken der Geschichte geht, sondern um die Demaskierung einer Gewalt, die vielfältige Formen annehmen kann. Die Art und Weise, von wem und wie Menschen of Colour dargestellt und wahrgenommen wurden und werden, spielt dabei eine Rolle. Unser Blick und unser Bemühen um Wissen über diesen Blick spielen eine Rolle.

An Weems Werk Not Monet’s Type zeigt sich eindrücklich, dass diese historischen Blickmuster dazu beitragen, immer wieder auch die Kunst in ihrer kolonialen Geschichte gefangen zu halten. Weems posiert vor einem runden Spiegel vor ihrem Bett, der wie ein Gemälde wirkt. Sie hat uns den Rücken zugewandt. Den Kopf leicht zur Seite geneigt stützt sie sich mit einer Hand auf die Bettkante. „Standing on shakey ground I posed myself for critical study but was no longer certain of the questions to ask“, lesen wir unter der Fotografie.

Wie umgehen mit einer Kunstgeschichte, die den eigenen Blick, die eigene Kunst abwertet und verstellt? „It was clear, I was not Manet’s type. Picasso – who had a way with women – only used me & Duchamp never even considered me”, steht auf dem nächsten Bild der Serie. Weems spielt auf die vielfältigen Weisen an, mit denen weisse Künstler Schwarze Menschen und insbesondere Frauen aus der Kunstgeschichte verdrängt haben: Aneignung, Objektivierung, Missachtung. Die Geschichte ist immer präsent in der Kunst, Weems deckt lediglich Mechanismen auf, die auch in anderen Ausstellungen im Hintergrund rumoren, unseren Blick lenken und uns dennoch allzu oft ohne das mulmige Gefühl aus einem Museum entlassen, wie wir es bei der Betrachtung von Weems Kunst empfinden.

Aber wie gehen weisse Museumsbesucher*innen, zu denen ich selbst gehöre, mit diesen unbequemen Gefühlen um? Neben mir steht ein älteres Paar und betrachtet das Bild einer Schwarzen Frau, die in einen Spiegel blickt. Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land? Die Antwort des Spiegels ist deutlich:
„Snow white, you black bitch, and don’t you forget it!!!”
Die zwei Betrachter*innen schmunzeln. 
“Gut, sie hat Humor. Das ist wichtig,“ sagt die Frau zu ihrem Begleiter, bevor sich die beiden dem nächsten Raum zuwenden.
Ich schaue auf die Beschriftung neben dem Bild.
Ain’t Jokin‘ heisst die Serie.

„Slave Coast“ von Carrie Mae Weems, 1993. © bei der Künstlerin.
Courtesy the Artist, Jack Shainman Gallery and Galerie Barbara Thumm. Photo: Gina Folly.


Wie fragil ist die weisse Schweiz?

Weems arbeitet mit beissender Ironie und subtiler Dekonstruktion. Dass sie ihr Werk auf den Humor des Basler Daigs ausgerichtet hat, der an der Vernissage zahlreich vertreten ist, wage ich allerdings zu bezweifeln. Warum ist es so, dass Kunst, die sich mit Rassismus und Kolonialismus auseinandersetzt, humorvoll sein muss, zart und unaufdringlich?

Einerseits spielen hegemoniale Geschlechterbilder eine Rolle. Künstlerinnen müssen sich wie andere Frauen und weiblich gelesene Menschen darum bemühen, ihre Gesellschaftskritik auf eine möglichst leichte Art und Weise vorzubringen, wenn sie vom Publikum wohlwollend rezipiert werden möchten. Jene, die Wut oder ähnlich männlich markierte Emotionen ausdrücken, werden dagegen schnell als „hysterisch“ diffamiert – vor allem, wenn es sich bei ihnen um People of Color handelt. Andererseits ist es möglicherweise besonders der weisse Anteil des Publikums, der sich von einer zu offensiven Rassismuskritik bedroht fühlt: Emotionaler Rückzug, Verweigerung und Vermeidung sind der whiteness-Forscherin Robin DiAngelo zufolge drei der häufigsten Reaktionen von weissen Menschen auf Rassismus-Konfrontationen. Diese Reaktionen sind für DiAngelo Teil einer white fragility, einer weissen Fragilität, die Rassismus mit der bösen Absicht einzelner Individuen verbindet und ihn deswegen fast zwanghaft von sich weist. Indem weisse Menschen die Aufmerksamkeit auf ihr angeschlagenes Selbstbild ziehen, verhindern sie im Anschluss eine Auseinandersetzung mit ihrem eigenem und dem gesellschaftlich verankerten Rassismus. DiAngelo weist darauf hin, dass diese defensiven Reaktionen vieler weisser Menschen damit zusammenhängen, dass sie die strukturelle Verankerung von Rassismus verkennen, die in der Forschung schon länger bekannt ist: Rassismus ist eben nicht nur das Problem einiger weniger rechtsradikaler, „amoralischer“ Menschen mit böswilliger Absicht, sondern strukturell und historisch so stark in vielen Gesellschaften der Welt verankert, dass es für die meisten Menschen fast unmöglich ist, sich nie rassistisch zu äussern. Erst wenn insbesondere weisse Menschen diese rassistischen Strukturen (an)erkennen und verstehen, inwiefern sie selbst von ihnen geprägt sind, ist eine echte Debatte und – noch wichtiger – ein offener Lernprozess möglich.[1]

Solange wir aber Rassismus als etwas von uns weisen, das uns angeblich nicht betrifft, leugnen wir die rassistischen Strukturen, die auch die Schweizer Geschichte und Gesellschaft unweigerlich prägen. Ist es also denkbar, dass Humor – der an sich ein wichtiges Mittel in der Kunst sein kann – für einen Teil des weissen Publikums eine Abwehrreaktion darstellt, um sich nicht intensiver mit der eigenen rassistischen Vergangenheit beschäftigen zu müssen, individuell und als Gesellschaft?

Dass Rassismus lediglich ein Problem des weit entfernten Trump-US-Amerikas sei oder dass die Schweiz keine koloniale Vergangenheit habe, da sie nie im Besitz eigener Kolonien gewesen sei, sind Argumente, die weisse Schweizer*innen oft anführen, um über den Rassismus „der anderen“ den Kopf zu schütteln. Tatsächlich sind die Bilder und Geschichten, die Weems in ihren Arbeiten zitiert, alles andere als weit entfernt von der Schweizer Geschichte. Die Serie Slave Coast zeigt Festungs- und Gefängnisbauten aus dem 15. bis 18. Jahrhundert an der westafrikanischen Küste. Von dort aus wurden zahlreiche versklavte Menschen im Zuge des sogenannten Dreieckshandels in die Kolonien in den Amerikas und der Karibik verschifft. Dort wurden sie gezwungen, auf Plantagen zu arbeiten. Nicht wenige Basler*innen profitierten von diesem Handel, indem sie in den Genuss von sogenannten „Kolonialwaren“ wie Zucker, Kaffee, Tabak oder Kakao kamen. Angehörige grossbürgerlicher Basler Familien investierten zudem in den Sklav*innenhandel und schufen gleichzeitig Absatzmärkte für Produkte ihrer eigenen Firmen. Die in Basel hergestellten Tücher wurden beispielsweise in Afrika gegen Sklav*innen eingetauscht.

Gut dokumentiert sind drei Generationen der einflussreichen Burckhardt-Familie, die Ende des 18. Jahrhunderts an 21 Sklav*innen-Transporten beteiligt war. Bei einer Sterberate von 15% und durchschnittlich 350 Sklav*innen pro Schiff sind das ca. 1100 Todesfälle von Afrikaner*innen, für die die Basler Familie allein bei der Überfahrt mitverantwortlich war. Dass diese Beteiligung der Schweiz am Kolonialismus und am Sklav*innenhandel heute immer noch vielen unbekannt ist, liegt nicht zuletzt daran, dass der Blick auf diese Geschichte lange verdeckt wurde. Als zum Beispiel Carl Burckhardt-Sarasin, ein Urgrossneffe des Firmengründers, das Archiv der Burckhardts Ende der 1920er Jahre neu ordnete, achtete er darauf, kompromittierende Akten der Firma über den Sklav*innenhandel in versiegelten Schachteln abzulegen. Gleichzeitig unterschlug er die Beziehungen der Burckhardts zum Sklav*innenhandel in seinen historiographischen Darstellungen über die Handelsfirma.[2]

Der Zugang zu Archiven und die Autor*innenschaft der Geschichte sind also zwei zentrale Umstände, die darüber entscheiden, welche rassistischen und kolonialen Strukturen wir heute erkennen und dekonstruieren können. Dies gilt auch für die Kunst. Wer die koloniale Vergangenheit Basels und die Art und Weise, wie diese uns heute noch prägt, verkennt, wird in Weems Kunst immerhin eine mächtige Kritik an den rassistischen Strukturen der USA erkennen können. Jemand, der offen ist für die Gemeinsamkeiten und Komplexitäten kolonialer Geschichten, die über den ganzen Globus und insbesondere auch über die Schweiz verteilt sind, mag sich von der Ausstellung aber vielleicht nochmals auf eine andere Art berühren und zum Nachdenken anregen lassen. Wer sich etwa mit der Rolle der Schweiz im heutigen globalen Rohstoffhandel auseinandersetzt, dem*r wird schnell klar, wie koloniale Strukturen dieses Land weiterhin prägen.

„The Louvre“ von Carrie Mae Weems, 2006. © bei der Künstlerin.
Courtesy the Artist, Jack Shainman Gallery and Galerie Barbara Thumm.


Den eigenen Blick hinterfragen

Aus diesem Grund ist die Thematisierung des Blicks und des Wissens hinter diesem Blick bei Weems so zentral. Im Erdgeschoss werden die Besucher*innen denn auch aufgefordert, sich mit Hilfe von View-Mastern selbst durch Archivbilder zu knipsen. Den Betrachter*innen wird so nahegelegt, Verantwortung dafür zu übernehmen, was wir sehen, wie wir uns zwischen den Bildern bewegen und welche Beziehungen wir zu ihnen aufbauen. Viele der Bilder, die ich so nacheinander vor mein Auge schiebe, sind Fotografien von Schwarzen Aktivist*innen. Über das Mittel des View-Masters stellt sich im Erdgeschoss eine intime Atmosphäre zwischen den Museumsbesucher*innen und der Vergangenheit ein. Von der Wand neben dem View-Master-Tisch blicken die Gesichter von Angela Davis, Bobby Seale und anderer Aktivist*innen der Black-Power-Bewegungen der 1960er Jahre in den Saal. Nicht nur hier wird Weems Auseinandersetzung mit Formen des Widerstandes und der Wieder-Aneignung des musealen Raums sichtbar, ein Raum, der Weems selbst lange verwehrt wurde.

Auf einer schwarz-weissen Fotografie der Museum Series sehen wir Weems von hinten, schwarz gekleidet auf einem ungewöhnlich menschenleeren Platz vor dem Louvre stehen. Allein steht sie, wie auf anderen Bildern, vor den verschlossenen Türen der grossen Museen. Durch die Glaspyramide schimmert mächtig die alte Palastfassade des Louvres – unter anderem Sitz Napoleons, der 1802 die kurzzeitig abgeschaffte Sklaverei wieder einführte. Museen sind nicht selten selbst Institutionen mit einer Geschichte von imperialer Macht, kolonialem Reichtum, entmenschlichender Objektivierung, bewusstem Vergessen und Ausschluss. Ihre sorgfältig (von wem?) gesäuberten und polierten Räume und Wände bereitzustellen für eine Kunst, die sich historisch vorbelastete Räume aneignet und sie dazu nutzt, Gegenerzählungen und -bilder zu verbreiten, ist ein erster Schritt, um sich – individuell und als Gesellschaft – mit der Geschichte und Gegenwärtigkeit von Rassismus und Kolonialismus auseinanderzusetzen. Der zweite Schritt ist, sich auf diese Kunst einzulassen. Der dritte, den eigenen Blick dabei nie ganz aus dem Auge zu lassen.



Aline Vogt ist Historikerin und freie Autorin. Zur Zeit schliesst sie ihre Dissertation zu Mensch-Tier- und Geschlechterverhältnissen in der französischen Aufklärung an der Universität Basel ab. Daneben lehrt sie an der Universität, beteiligt sich am Verein Frauenstadtrundgang Basel und freut sich darüber, immer wieder neue Textformate austesten zu dürfen.



[1] Vgl. DiAngelo, Robin: White Fragility. Why It’s So Hard for White People to Talk About Racism, Boston 2018.

[2] Vgl. Stettler, Niklaus; Labhardt, Robert; Haenger, Peter: Baumwolle, Sklaven und Kredite. Die Basler Welthandelsfirma Christoph Burckhardt & Cie. in revolutionärer Zeit (1789–1815), Basel 2004. Labhardt, Robert; Haenger, Peter: „Basel und der Sklavenhandel: Das Beispiel der Burckhardtschen Handelshäuser zwischen 1780 und 1815,“ in: Bott, Sandra; David, Thomas; Lützelschwab, Claude u. a. (Hg.): Schweiz – Afrika (18. – 20. Jahrhundert): Vom Sklavenhandel zum Ende des Apartheid-Regimes, Münster 2005, S. 36–37. Franc, Andrea. Wie die Schweiz zur Schokolade kam. Der Kakaohandel der Basler Handelsgesellschaft mit der Kolonie Goldküste (1893-1960). Schwabe, 2008.


Bild: „The Louvre“ von Carrie Mae Weems, 2006 (Ausschnitt). © bei der Künstlerin. Courtesy the Artist, Jack Shainman Gallery and Galerie Barbara Thumm.

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