Geschlechterforschung, Kunst, Literatur

«Lasst uns die Menschen öfter mit Tieren vergleichen!»

Von Alissa Gabler. Dieser Text ist Teil der Reihe «Sailing into another future. Emanzipatorische Utopien zu Geschlecht, Sexualität und darüber hinaus».



Sie sagen es sei widernatürlich
Doch sie liegen falsch denn
In dieser Kultur wird manche Theorie alt
Und dann haben sie Jahrhunderte lang Unsinn gequatscht»

Sookee, Queere Tiere

Wer im Duden den Begriff «Emanzipation» nachschlägt, findet folgende Definition vor: «Befreiung aus einem Zustand der Abhängigkeit». Um die Frage nach einer emanzipatorischen Zukunft zu beantworten, kommt mir als erstes die Natur in den Sinn. Obwohl es sich dabei nicht um eine Utopie handelt, da sie bereits Wirklichkeit ist, lässt sich fragen, weshalb gewisse Phänomene aus dem Tierreich, etwa das Selbstverständnis der Vielfalt, noch nicht oder nicht mehr in menschliche Gesellschaften übergegangen sind.

Die Menschheit versucht vieles anhand der Natur zu beschreiben und begründen. Dennoch sind die Monogamie und die Binarität als Denk- und Lebensmodelle in der Gesellschaft stark verankert und wie es scheint kaum änderbar. Ich bin aufgewachsen in einer Umgebung, in der Monogamie eigentlich die einzige anerkannte Form der Partner*innenschaft war und ist. Sicherlich gab es immer wieder Ausbrüche aus diesem Modell, wobei diese jedoch als Bruch der Partner*innenschaft betrachtet wurden und werden.

Unter Tieren ist die Monogamie nicht sehr verbreitet. Polygamie, Polyandrie, Polygynie oder Promiskuität hingegen schon. Die Polyandrie, wobei Weibchen mehrere männliche Sexualpartner haben, ist beispielsweise bei der Honigbiene oder beim Nacktmull bekannt. Auch Polygynie, wenn Männchen mehrere weibliche Sexualpartnerinnen haben, ist bei vielen Säugetierarten, wie unter anderen Elefanten oder Dromedaren, verbreitet. Es scheint, als wäre das oft genannte Problem der Eifersucht bei gewissen Tieren weniger oder eher als Konkurrenz bezüglich der Reproduktion bekannt. Geschlechtskrankheiten und die Sicherstellung der genetischen Vielfalt sind bei jeder Form der Fortpflanzung Thema. Bonobo-Affen sind eng mit dem Menschen verwandt und leben ein friedliches Sozialleben vor. Weibliche Bonobos übernehmen die Führung der Gruppe und die Pflege der Beziehungen untereinander wirkt sehr wichtig. Ausserdem verfügen sie über ein auffälliges Sexualverhalten, da sie täglich mehrere Male Sexualkontakte mit unterschiedlichen Artgenoss*innen haben, wobei weder das Geschlecht noch der soziale Status eine Rolle zu spielen scheinen.

Die gemeinsame Fellpflege bei Bonobos.
Foto: Lui Kotale, Demokratische Republik Kongo, 2010. Quelle: Wikimedia Commons.


Statt zu streiten wird bei den Bonobos munter getauscht
Sie sind gechillte Tiere, das wünscht man dem Mensch mitunter auch
Jeder zehnte Pinguin ist keine Hete
Wie ist das bei uns? Wir wissen leider zu wenig»

Sookee, Queere Tiere

Auch das biologische Geschlecht zeigt sich in der Natur als vielfältig. Es gibt nicht nur biologische «Weibchen» und «Männchen», sondern auch Tiere, bei welchen sowohl männliche und weibliche Geschlechtszellen gebildet werden. Parthenogenese wird die eingeschlechtliche Fortpflanzung genannt. Hierbei findet eine Fortpflanzung statt, ohne dass zwei Geschlechter benötigt werden. Dies ist zum Beispiel bei gewissen Schlangen und Fischen der Fall. Diese Vielfalt zeigt, dass Intergeschlechtlichkeit so natürlich ist wie jedes andere Geschlecht. Traditionelle Vorstellungen von Geschlecht und Gender (also biologischem und sozialem Geschlecht) werden durch die Intergeschlechtlichkeit in Frage gestellt. Menschliche Geschlechtsmerkmale sind komplexer als die Binarität, in die sie eingeteilt werden und welche oftmals als natürlich betitelt wird.

Unterschiedliche Tiere, seien es Säugetiere oder Wirbellose, weisen eine grosse Vielfalt der Geschlechter, Fortpflanzung und Wandelbarkeit auf. Das Selbstverständnis, mit welcher dies angenommen und nicht hinterfragt wird (menschlichen Beobachtungen nach), ist meiner Meinung nach auch für die Menschheit wünschenswert. Clownfische wechseln in ihrem Leben beispielsweise das Geschlecht. Sie sind die einzigen Tiere, bei welchen bekannt ist, dass sich zuerst das Gehirn und erst danach die Geschlechtsorgane verändern. Im Vergleich zu anderen Spezies wird deutlich, dass geschlechtsbezogene Stereotypen und Erwartungshaltungen, wie etwa, dass Mütter zuhause bleiben und Väter in die Arbeitswelt eingebunden sind, alles andere als „normal“ oder „natürlich gegeben“ sind. Bei vielen Vogelarten, beispielsweise dem Mornellregenpfeifer, Helmkasuar oder dem rotstirnigen Blatthühnchen, sind die Weibchen nicht nur grösser als die Männchen, die männlichen Vögel übernehmen hier ausserdem den Nesterbau, das Brüten und die Betreuung des Nachwuchses. Auch beim Säugetier Tüpfelhyäne übernimmt ein Weibchen die leitende Rolle in der Gruppe.

Ein erwachsener, männlicher Helmkasuar mit zwei Küken.
Foto: Arjan Haverkamp, Artis Zoo, Amsterdam, Niederlande, 2008. Quelle: Wikimedia Commons.


Chromosomen sind nicht alles und Hormone im Wandel
Es gibt keine Behandlung, niemand wird doof behandelt
Sie haben One-Night-Stands oder leben monogam
Kein Tier hat im Schrank je seine Lebenszeit vertan»

Sookee, Queere Tiere

Eine Neudefinition von Geschlecht scheint heute noch in der Zukunft zu liegen. Betrachtet man jedoch die vielen Möglichkeiten, wie Geschlecht von anderen Tieren gelebt wird, sieht es aus, als sei es gar nicht so schwierig. Doch der Einfluss von Traditionen und Normen in der Gesellschaft ist enorm und schwer zu durchbrechen. Eine einzige Lebensweise oder Beziehungsform aus dem Tierreich auszuwählen und nachzuahmen, wäre wahrscheinlich nicht die beste Lösung für eine emanzipatorische Zukunft, doch die Offenheit gegenüber und die Art der Betrachtung der Geschlechter- und Beziehungsvielfalt sollte sich revolutionieren. Ich empfinde die nach wie vor bestehende Normalisierung von Heterosexualität, Cis- und Endo-Geschlechtlichkeit (das Gegenteil von Inter-Geschlechtlichkeit) und monogamen Beziehungen als einen gesellschaftlichen Stillstand: als ein trauriges Zeugnis für fehlende Offenheit und aktives Ignorieren von Fakten, wodurch Diskriminierung, Ausgrenzung und Ausbeutung ständig re-produziert werden, und letztlich als Unfähigkeit, sich gesellschaftlich zu wandeln. Die Akzeptanz der Natürlichkeit einer über das Binäre hinausreichenden Geschlechtervielfalt würde unendliche viele Hürden abbauen, welche hart wie Beton zu sein scheinen.


-Suprise!- Es gibt doch mehr als zwei Geschlechter
Wirf‘ ein‘ Blick in die Natur und du weißt, wer Recht hat
Männchen vögeln Männchen, Weibchen lieben Weibchen
Lasst uns die Menschen öfter mit Tieren vergleichen»

Sookee, Queere Tiere



Über Alissa Gabler: Nach meinem Studium an der Pädagogischen Hochschule und meiner fünfjährigen Tätigkeit als Klassenlehrerin einer Primarschule, wurde mir klar, dass ich noch etwas anderes machen möchte. Im Alltag als Lehrerin sind mir viele geschlechterspezifische Verhärtungen aufgefallen, welche ich genauer betrachten wollte. Das Studium Gender Studies ist sehr vielfältig und es werden viele gesellschaftliche Normen kritisch hinterfragt. Ich finde es von grosser Bedeutung den Kindern einen offenen Umgang mit unseren Mitmenschen vorzuleben und die Kinder in ihrer Individualität zu feiern.

Eine frühere Version dieses Textes wurde hier veröffentlicht: Gabler, Alissa und Thym, Anika, Hg. (2023): Pathways to Utopia. Sammlung fiktionaler Beiträge zu Emanzipation, Utopie und alternativer (Kolonial)Geschichte aus dem Proseminar «Emanzipationstheorien und Geschlecht». Basel, S. 16–17. Hier gehts zum PDF.

Der Titel dieses Textes entstammt einer Zeile aus dem Lied «Queere Tiere» von Sookee.


Literatur

Duden online: Emanzipation, die. Cornelsen Verlag GmbH. Zuletzt eingesehen am 13.10.2023.

Naturhistorisches Museum Bern (2023): Virtuell: Unterwegs in «Queer – Vielfalt ist unsere Natur». Museum digital. Zuletzt eingesehen am 13.10.2023.

Naturhistorisches Museum Bern (2021): Didaktisches Zusatzmaterial zur Sonderausstellung «Queer – Vielfalt ist unsere Natur». B+V NMBE.

Sookee (2017): Queere Tiere. Text und Musik: Sookee, DangerDan, Riffsn & Timo Sauer. Interpretiert von Sookee, Mortem & Makeup, Buback Tonträger.


Beitragsbild: Die gemeinsame Fellpflege bei Bonobos. Foto: Lui Kotale, Demokratische Republik Kongo, 2010. Quelle: Wikimedia Commons (zugeschnitten).

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