Geschlechterforschung, Kunst, Literatur

Sailing into another future. Emanzipatorische Utopien zu Geschlecht, Sexualität und darüber hinaus

Von Anika Thym mit einem Prolog mit Alissa Gabler. Dieser Beitrag ist Teil der Reihe «Sailing into another future. Emanzipatorische Utopien zu Geschlecht, Sexualität und darüber hinaus».


Aktuelle Krisen, wie die ökologische und Klimakrise sowie antifeministische, antigenderistische, antisemitische und rassistische Bewegungen, stimmen mich oft hoffnungslos, was die Zukunft betrifft. Als ich meine Utopie schreiben wollte, vielen mir mehr Dystopien ein. Aber die utopischen Texte im Proseminar haben mich hoffnungsvoll gestimmt. Vielleicht ist eine bessere Welt doch möglich!»


Beim Schreiben meiner Utopie dachte ich schnell, das ist doch kitschig und unrealistisch. Und dann habe ich mir überlegt, woher diese Gedanken kommen? Sind sie nicht selbst eine Art, die Utopie zu verunmöglichen? Eine Selbstzensur, die vor allem den Status Quo affirmiert? Also habe ich weitergeschrieben und meine Utopie etwas ernster genommen.»


Oft überlege ich mir, wie schwierig schon die kleinsten emanzipatorischen Schritte sind und frage mich, wie ich mit den vielen Hürden und Widerständen umgehen kann. Es war sehr befreiend, mal nicht darüber nachzudenken, wie die Hürden überwunden werden können, sondern wie eine emanzipatorische Welt aussehen könnte, und davon zu träumen, wofür wir uns eigentlich einsetzen wollen.»


Prolog

Von Alissa Gabler und Anika Thym

Reaktionen wie diese haben uns, Alissa Gabler und Anika Thym, dazu bewegt, kreative Beiträge zu Utopie bezogen auf Geschlecht, Sexualität und darüber hinaus einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Im Frühjahrsemester 2023 durfte Anika ein Proseminar zu «Emanzipationstheorien und Geschlecht» im Fachbereich Geschlechterforschung der Universität Basel leiten. Dabei hat sie Studierende eingeladen, kreative Beiträge zu Utopie bezogen auf Geschlecht, Sexualität und darüber hinaus zu verfassen bzw. zu gestalten. Entstanden sind Geschichten, Gedichte, Telefongespräche und Collagen. Um die berührenden und inspirierenden Beiträge über den Kontext des Proseminars hinaus zugänglich zu machen, haben Alissa, eine Studentin, und Anika bei art of intervention angefragt, ob Interesse besteht, einige der Beiträge auf dem Blog zu veröffentlichen. Wir freuen uns sehr, dass diese Zusammenarbeit zustande kam und einige Beiträge in überarbeiteter Form hier nun erscheinen können. Im September 2023 haben wir eine Broschüre mit den originalen Beiträgen aus dem Proseminar zu Utopie wie auch zu alternativer (Kolonial-) Geschichte veröffentlicht (Gabler & Thym, 2023). Druckexemplare liegen, solange der Vorrat reicht, im Zentrum Gender Studies der Uni Basel aus. Die PDF-Version kann hier gratis heruntergeladen werden.

Für Alissa, die selbst auch kreative Texte verfasst hat, war die Schreibübung selbst eine Form der Befreiung:


Emanzipation ist ein Synonym für Befreiung und für mich war die Möglichkeit, im Studium auf diese Weise kreativ sein zu dürfen, auch eine Möglichkeit, frei denken zu dürfen, losgelöst von richtigen Zitierweisen und Fussnoten. Wir wurden ermutigt, unsere Gedanken auf hohe See zu schicken, sei diese wild und chaotisch, die Segel dennoch zu setzen und dem Fluss unserer Inspiration zu folgen. Den eigenen Gedanken zuzuhören und diese nicht von den gesellschaftlichen Möglichkeiten, welche heutzutage herrschen, einschränken zu lassen, brauchte einen gewissen Mut. Die kreativen Texte, Ideen und Vorstellungen anderer Studierender zu lesen, war inspirierend und lösten in mir viele positive und hoffnungsvolle Gefühle bezüglich der gesellschaftlichen Zukunft aus.»

Gabler

Wir bedanken uns herzlich beim art of intervention Team (Dominique Grisard, Andrea Zimmermann und Christina Zinsstag) und wünschen inspirierende Lektüre.

Drei weisse Papierschiffchen schwimmen auf leichten Wellen in seichtem Wasser auf dem Bodensee. Die Sonne spiegelt sich im Wasser und zeichnet Muster auf den Boden. Im Hintergrund sind Segelschiffe auf dem Wasser, dahinter grüne Hügel, und darüber Wolken am Himmel zu sehen.
Bild von Alissa Gabler und Janic Walder.


Emanzipatorische Utopien zu Geschlecht, Sexualität und darüber hinaus

Von Anika Thym

Wie Theodor W. Adorno feststellt, ist der Glaube, dass eine andere Welt letztlich nicht möglich ist, eines der anti-utopischsten Momente in unserer Gesellschaft (Adorno & Bloch, 1964). Dies, obwohl die meisten Menschen auch wüssten, dass eine gerechtere Welt durchaus möglich wäre. Beispielsweise produzieren wir genug Nahrung für die ganze Weltbevölkerung, wir schicken sie nur nicht zu den leeren Bäuchen, sondern zu den vollen Geldbeuteln. Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, dass es technisch und organisatorisch möglich wäre, dies anders zu gestalten. Ähnliches gilt für die Umsetzung der Klimaziele und die gleichberechtigte Anerkennung verschiedener Geschlechter und Sexualitäten, rassifizierter Personen, dis/abilities, etc. Theodor W. Adorno und Ernst Bloch betonen daher zurecht, wie wichtig es ist, zu wissen, dass emanzipatorische Verhältnisse möglich wären, denn ohne dieses Wissen, können wir auch nicht auf sie hinarbeiten. Ganz in diesem Sinne betont auch Angela Davis:


You have to act as if it were possible to radically transform the world. And you have to do it all the time.»

Davis, 2018, S. 99

Ziel der kreativen Beiträge war es daher, diesem Träumen, Hoffen und Entwickeln Raum zu geben, um die Bedeutung und Herausforderungen von Emanzipation anders zu begreifen. Denn letztlich muss Emanzipation immer wieder aufs Neue erfunden und gestaltet werden.


Inspirierende Texte für das Erfinden von Utopien

Wie könnte eine emanzipatorische Zukunft bezogen auf Geschlecht, Sexualität und darüber hinaus aussehen? So lautete die Fragestellung zu Utopie, welche ich den Studierenden im Rahmen des Proseminars stellte. Als Textinspiration wurden vier Texte angegeben. Erstens: «The Camille Story. Children of Compost», ein Kapitel in Donna Haraways (2016, S. 134–168) Buch Staying with the Trouble: Making Kin in the Chthulucene, in dem es um eine gemeinsame auch genetische Entwicklung und Vermischung zwischen Menschen und nicht-menschlichen Tieren geht. Darin wird eine fiktionale Geschichte erzählt, in welcher es unter anderem um die Person Camille 2 geht, die von 2085 bis 2185 lebt und die Sinnesorgane der Monarchenschmetterlingen inkorporiert. «At initiation at age fifteen, as a coming-of-age gift the second Camille decided to ask for chin implants of butterfly antennae, a kind of tentacular beard, so that more vivid tasting of the flying insects’ worlds could become the heritage of the human partner too, helping in the work and adding to the corporeal pleasures of becoming-with» (Haraway, 2016, S. 152).

Zweitens wurde, Ursula Le Guins (2002, S. 118ff.) erstmals 1969 publiziertes Buch The Left Hand of Darkness angegeben, insbesondere die Erklärungen zum Verständnis von Geschlecht einer menschlichen Spezies, in welcher Personen körperlich androgyn sind und bei Geschlechtsreife einmal pro Zyklus situativ ‘männliche’ oder ‘weibliche’ Organe ausbilden. Personen dieses fiktionalen Planeten können daher im gleichen Leben Kinder ‘gebären’ und ‘zeugen’.

Ein kurzer Einschub dazu: Christine Kaufmann hat eine studentische Sitzungsgestaltung im Proseminar zum Thema Emanzipation und Science-Fiction bezogen auf Geschlecht und Sexualität übernommen und unter dem Titel «Emanci-Space-ion» geleitet. In ihrer Einführung hat sie mit Bezug auf Le Guin graphisch dargestellt, wie die Verwunderung über einen schwangeren «König» aus der Perspektive des angereisten Diplomaten aussehen kann, der von einer Geschlechterordnung kommt, die der «unseren» ähnelt.

Bildbeschreibung: Oben links ist ein Radio zu sehen aus dem ertönt: «The King is pregnant! Rejoice!». Der Diplomat von einem anderen Planeten mit binärer Geschlechterordnung, ähnlich der «unseren» sagt: «How the F?». Unten links sind drei Personen dargestellt, die auf dem Planeten mit androgynen Menschen einheimisch sind. Sie sagen: «At his age?», «Really?» und «Last chance I guess…».
Grafik von Christine Kaufmann


Bezogen auf die Sprache ist es wichtig zu bemerken, dass Le Guin für diese androgynen Personen das generische Maskulinum verwendet, in der Annahme, dies sei allgemeiner. Dieser Sprachgebrauch verschiebt jedoch die Perspektive, denn wenn der «König», als «König:in» bezeichnet würde, wäre die Verwunderung nicht so gross. Die Kritik an der Verwendung des generischen Maskulinums hat Le Guin an- und aufgenommen und später z.B. das Pronomen «hesh» als geschlechterinklusive Alternative zu «he» und «she» eingeführt.

Weitere Literaturangaben zur Inspiration waren drittens, aus dem naturwissenschaftlichen Magazin Nature, der Artikel «Sex redefined» von Claire Ainsworth (2015), in dem es um die biologische Vielfalt von Geschlecht über Binarität hinaus bei menschlichen und nicht-menschlichen Tieren geht. Erläutert werden auch – durchaus fragwürdige – Experimente an Mäusen, bei denen das Aktivieren oder Deaktivieren spezifischer Gene dazu führte, dass «granulosa cells that support the development of eggs transformed into Sertoli cells, which support sperm development» und dass «inactivating a gene called Dmrt1 could turn adult testicular cells into ovarian ones» (Ainsworth, 2015, S. 289).

Dies bedeutet, dass spezifische Gene dafür zuständig sind, dass die jeweiligen Geschlechtsorgane ständig (re)produziert werden. Wenn diese an- oder ausgeschaltet werden, kann das Wachstum der jeweiligen Geschlechtsorgane gebremst bzw. angeregt werden. Neben dem breit erforschten Aspekt des «doing gender» wird hier auch die Bedeutung von «doing sex» deutlich – auch das biologische Geschlecht muss durch Genstrukturen und körperliche Aktivität anscheinend ständig hergestellt werden.

Viertens wurde von Cari Romm (2015) ein Artikel angegeben über Martha’s Vineyard, eine Nord-Amerikanische Insel in welcher vom 17. bis ins 19. Jahrhundert ein Grossteil der Bevölkerung (zeitweise eine von 25 Personen) taub oder hörbehindert war. Um die Kommunikation zu gewährleisten, lernten alle, auch Hörende, Gebärdensprache und verwendeten sie in ihrer alltäglichen Kommunikation. Der Text wurde als Beispiel für die kommunikative Inklusion von Personen mit Hörbehinderung eingebracht. Um Infrastruktur und Inklusion ging es in der Einführungssitzung in Zusammenhang mit dem Disney Film Zootopia.

Inspiriert waren die Texte zudem von vorherigen Sitzungen zur Geschichte und Konzeptualisierung von Feminismus und Emanzipation (Maihofer, 2019), zur Unterscheidung von Befreiung und Praxen der Freiheit (Foucault, 1984), zur Thematisierung von Emanzipation und der Haitianischen Revolution (1791–1804) (Fick, 2000), trans*emanzipatorische Perspektiven auf Zusammenhänge von Ableismus (Behindertenfeindlichkeit), dis/ability und Transgeschlechtlichkeit (Baril, 2015) sowie der Frage, was Emanzipation von Geschlechterbinarität und -hierarchie bedeuten könnte. Ginge es um eine Vervielfältigung (Maihofer, 2021) und/oder eine Überwindung von Geschlecht (Maier, 2022)?

Die vier Texte sollten dazu anregen, über Möglichkeiten der Vervielfältigung von Geschlecht und Sexualität in Bezug auf körperliche und gesellschaftliche Aspekte nachzudenken, sowie darüber hinaus über Inklusion und die gleichberechtigte Anerkennung von Differenz und Vielfalt, beispielsweise bezogen auf Infrastruktur und Kommunikation.

Bildbeschreibung: Collage namens Geschlechter*Utopien. In der Mitte stehen zwei Weisse Personen, eine mit schwarzem Anzug und kurzen dunklen Haaren, eine mit weissem Hemd und langen blonden Haaren. Die Person im Anzug hält ein Weisses Kleinkind, die Person im Hemd steht seitlich den beiden zugewandt. Die Gesichter sind mit Glitzer unkenntlich gemacht. Im Hintergrund sieht mensch einen wolkigen Himmel in dem Planeten umherschweben.
Collage von *ina



Eutopische Gestaltung einer anderen Zukunft

Verschiedene Motivationen bewegten mich zur Einladung, kreativ mit Text und Bild Überlegungen zu emanzipatorischen Utopien anzustellen. Erstens ging es darum, konkret über die Komplexität von Emanzipation nachzudenken. Anhand des Textes von Andrea Maihofer (2019) zu «Feminismus und Emanzipation – Und darüber hinaus» haben wir besprochen, wie komplex Befreiung gedacht werden muss, wenn man darunter versteht, alle Verhältnisse zu überwinden, in welchen Menschen – ergänzen möchte ich auch nicht-menschliche Tiere und die Natur – ausgebeutet, erniedrigt, marginalisiert und diskriminiert werden. Diese Perspektive formuliert Maihofer im Anschluss an Karl Marx (Maihofer, 2019, S. 199). Dabei betont Maihofer, dass Emanzipation eine Transformation der Gesellschaft als Ganzes bedeutet, das heisst, dass «Veränderungen in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, den gesellschaftlichen Institutionen und Strukturen wie Familie, Bildung, Politik sowie gesellschaftlich-kulturellen Wertsetzungen» unabdingbar sind «für eine nachhaltige Veränderung der alltäglichen Lebensweise der Individuen» (ebd., S. 183). Zudem führt Maihofer aus, dass wir Freiheit – auch individuelle Handlungsfreiheit – nicht voraussetzen können, sondern vielmehr nach den gesellschaftlichen Möglichkeitsbedingungen von Freiheit fragen müssen.


Individuelle und kollektive Freiheit im Sinne von Handlungsfähigkeit ist keine natürlich menschliche Eigenschaft; vielmehr ist sie Resultat historisch bestimmter Subjektivierungsweisen und zutiefst abhängig von den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen, Bedingungen und Ressourcen und nicht zuletzt von den herrschenden Normen des gesellschaftlichen Denk- und Lebbaren.»

Maihofer, 2019, S. 183

Damit stellt sich die Frage, welche gesellschaftlichen Rahmenbedingungen Emanzipation braucht, wozu in den fiktionalen Texten einige Ideen entwickelt wurden.

Zweitens war es mir ein Anliegen, die Perspektive auf Emanzipation zu verschieben: von einer Bewegung weg von dem was wir nicht wollen, hin zu einer Bewegung zu dem, was wir wollen. Von der Dekonstruktion und negativen Kritik, hin zur verantwortungsvollen und reflektierten Konstruktion einer erstrebenswerten Zukunft. Emanzipation bezieht sich auf eine negative Bewegung weg von etwas; auf einen Akt, sich aus der Kontrolle einer anderen Person oder Gruppe zu befreien (Cambridge Dictionary, 2023; Demirović et al., 2019). Foucaults (1984) Text «Die Ethik der Sorge um sich als Praxis der Freiheit» war daher ein weiterer zentraler Ausgangspunkt für das Proseminar und die kreativen Texte.

Foucault hält Befreiungspraxen oder Akte der Befreiung für notwendig, um gewisse Formen von Herrschaft zu überwinden, wie beispielsweise Kolonialherrschaft (Foucault, 1984, S. 877).[1] Um die Perspektive von Fragen der Befreiung zu verschieben hin zur Frage der Gestaltung von Praxen der Freiheit, war im Proseminar das folgende Zitat zentral:


Wenn ein kolonialisiertes Volk sich von seinen Kolonialherren befreien will, dann ist dies gewiss im strengen Sinn eine Befreiungspraxis. Aber in diesem übrigens sehr präzisen Falle weiss man sehr genau, dass diese Praxis der Befreiung nicht ausreicht, um die Praktiken der Freiheit zu definieren, die in der Folge nötig sind, damit dieses Volk, diese Gesellschaft und diese Individuen für sich annehmbare und akzeptable Formen ihrer Existenz oder der politischen Gemeinschaft definieren können. Deshalb insistiere ich mehr auf den Praktiken der Freiheit als auf den Prozessen der Befreiung, die, um es noch einmal zu sagen, ihren Stellenwert haben, mir aber aus sich selbst heraus nicht in der Lage zu sein scheinen, alle praktischen Formen der Freiheit zu bestimmen. Dabei handelt es sich genau um das Problem, auf das ich in Bezug auf die Sexualität gestossen bin: Hat es Sinn zu sagen: ‚Befreien wir unsere Sexualität?‘ Besteht das Problem nicht eher darin, diejenigen Praktiken der Freiheit zu definieren zu suchen, durch die man definieren könnte, was die sexuelle Lust, die erotischen, leidenschaftlichen und Liebesbeziehungen zu anderen sind? Dieses ethische Problem der Definition der Praktiken der Freiheit ist, wie mir scheint, sehr viel wichtiger als die etwas repetitive Beteuerung, dass man die Sexualität oder das Begehren befreien müsste.»

Foucault, 1984, S. 877

Die Blickverschiebung, die Foucault hier vornimmt, ist eine hin zum Gestalten: Wie können Praxen der Freiheit bezogen auf Geschlecht, Sexualität, dis/ability und die Überwindung von Rassismus, Klassismus, Ausbeutung, Sexismus, Ableismus etc. aussehen? Wie sieht emanzipatorische Bildung aus? Auch hier hat Foucault – wenn auch androzentrisch formuliert – eine produktive These. Problematisch sei nicht, wenn jemand «in einem bestimmten Wahrheitsspiel mehr weiss als ein anderer und ihm sagt, was er tun muss, ihn unterrichtet, ihm ein Wissen übermittelt, ihm Techniken mitteilt» (ebd., 356). Die Frage sei, wie man «Herrschaftseffekte vermeiden kann, die einen kleinen Jungen der unnützen und willkürlichen Autorität eines Lehrers unterwerfen, einen Studenten von einem sein Amt missbrauchenden Professor abhängig machen usw.» (ebd.). Ein Ziel der Schreibübung war daher, differenziert und gestaltend zu imaginieren, wie Praxen der Freiheit aussehen könnten und dazu im fiktionalen Rahmen verantwortungsvoll, (selbst)kritisch und mutig Utopien zu entwickeln.

Drittens scheint mir, dass kreative Zugänge eine andere Art des Verstehens erlauben und das Vorstellbare erweitern. Der Ausflug in die fiktionale Utopie kann die Perspektive auf die Gegenwart ändern (vgl. den Beitrag von Cléa Barbier). Wie zu Beginn bezogen auf Adorno und Bloch (1964) angesprochen wurde, ist das Wissen, dass gerechtere Verhältnisse möglich wären, ein unabdingbarer Schritt für emanzipatorische Prozesse. Fiktionale Ausflüge können solche Entwicklungen vorstellbar machen und die Wünschbarkeit wie auch die Realisierbarkeit erhöhen.

In diesem Sinn arbeitet auch adrienne maree brown (2017) mit Wissenschaft und Science-Fiction, um die Zukunft zu gestalten, in der wir leben möchten. Toni Tholen (2016) betont in seinem Konzept von «Kritik aus affektiver Fülle» das Potential von Kritik, die sich nicht aus einer Abgrenzung und einer heroischen (männlichen) Entgegensetzung speist. Vielmehr interessiert er sich für Kritik als lustvolles Prinzip, was bedeutet, dem Raum zu geben, was erfüllend ist, und somit eine andere Zukunft zu gestalten, die das Alte nicht bekämpft, sondern «diskret» hinter sich zurücklässt, indem man sich vom Positiven angezogen fühlt. Um die Geschichte und Zukunft, Emanzipation und Utopie, mehr auf die Gegenwart zu verpflichten, habe ich in einem anderen Zusammenhang (Thym, 2023) den Begriff der «eutopischen Kritik» und «eutopischen Transformation» vorgeschlagen. Anders als bei der Emanzipation geht es weniger um eine Bewegung weg von Herrschaft – das auch – und mehr um eine Bewegung hin zu der positiven Gestaltung der Gegenwart und Zukunft. Während «Utopie», ein Nicht-Ort ist, der nirgendwo ist, ist die Eutopie, der «eu-topos» ein guter Ort (British Library, o.d.). Die Bedeutung der erfinderischen Gestaltung von Utopie oder Eutopie betont auch Foucault (2006, S. 137): Wenn es so etwas wie eine «sozialistische Gouvernementalität gibt», müsse man sie erst «erfinden».

In verschiedenen Facetten wurden Beiträge ‘erfunden’, die Utopie bezogen auf Geschlecht, Sexualität und darüber hinaus imaginieren. In diesem Sinn möchte ich auch dazu einladen, schreibend fiktional und realistisch emanzipatorische Utopien zu erfinden und mitzugestalten.

Eine blau-violete Feder mit schwarzem Schaft, aus deren Spitze bunte Vögel fliegen. Die Feder soll das Schreiben symbolisieren, die Vögel die beflügelnde hoffnungsvoll-emanzipatorische Inspiration.
Illustration von Anika Thym



Alissa Gabler (sie/ihr): Nach meinem Studium an der Pädagogischen Hochschule und meiner fünfjährigen Tätigkeit als Klassenlehrerin einer Primarschule, wurde mir klar, dass ich noch etwas anderes machen möchte. Im Alltag als Lehrerin sind mir viele geschlechterspezifische Verhärtungen aufgefallen, welche ich genauer betrachten wollte. Das Studium Gender Studies ist sehr vielfältig und es werden viele gesellschaftliche Normen kritisch hinterfragt. Ich finde es von grosser Bedeutung den Kindern einen offenen Umgang mit unseren Mitmenschen vorzuleben und die Kinder in ihrer Individualität zu feiern.

Anika Thym (sie/ihr*):  Ich habe Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaften, Soziologie und Geschlechterforschung in Basel und Paris studiert. In meiner Dissertation im Fach Geschlechterforschung habe ich untersucht, wie manche Männer aus Führungspositionen in der Finanzbranche kritisch über Geschlecht und die gesellschaftliche Bedeutung ihrer Branche nachdenken. Ich unterrichte leidenschaftlich gerne und möchte mich hier bei allen Teilnehmenden des Proseminars für das gemeinsame Denken, Lernen, Trauern, Entrüsten, Träumen, Hoffen und Tanzen herzlich bedanken. Ich verwende die Pronomen sie/ihr in Anerkennung meiner weiblichen Sozialisation und der Kontinuität meines in vielen Punkten weiblichen Selbstverhältnisses. Der * soll meiner suchenden Bewegung darum herum, weg davon und darüber hinaus Raum geben.



Literatur

Adorno, T. W., & Bloch, E. (1964). «Möglichkeiten der Utopie heute (Südwestfunk, 6. Mai 1964 – Moderation: Horst Krüger)». In: philochat.

Ainsworth, C. (2015). «Sex redefined». In: Nature, 518(7539), Article 7539.

Baril, A. (2015). «Transness as Debility: Rethinking Intersections between Trans and Disabled Embodiments». In: Feminist Review, 111(1), S. 59–74.

British Library (accessed 03.05.2023). «Thomas More’s Utopia 1516. English Timeline».

brown, a. m. (2017). Emergent Strategie: Shaping Change, Changing Worlds. AK Press.

Cambridge Dictionary (accessed 03.05.2023). «Emancipation».

Davis, A. Y. (2018). In: AG Witchcraft (Hrsg.), Streikkalender. 165 Zitate bis zum Streik. Druckkollektiv Phönix.

Demirović, A., Lettow, S., & Maihofer, A. (2019). Emanzipation: Zur Geschichte und Aktualität eines politischen Begriffs. Westfälisches Dampfboot.

Fick, C. (2000). «Emancipation in Haiti: From plantation labour to peasant proprietorship». In: Slavery & Abolition, 21(2), S. 11–40.

Foucault, M. (1984). «Die Ethik der Sorge um sich als Praxis der Freiheit». In: Schriften 4. Suhrkamp, S. 875–902.

Foucault, M. (1986). Sexualität und Wahrheit: Zweiter Band: Der Gebrauch der Lüste. Suhrkamp.

Foucault, M. (2005). Analytik der Macht. Suhrkamp Verlag.

Foucault, M. (2006). «Vorlesung 4 (Sitzung vom 31. Januar 1979)». In: M. Senellart (Hrsg.). Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II: Geschichte der Gouvernementalität II. Vorlesungen am Collège de France 1978/1979. Suhrkamp, S. 112–147.

Haraway, D. J. (2016). Staying with the Trouble: Making Kin in the Chthulucene. Duke University Press Books.

Le Guin, U. K. (2002). The Left Hand of Dankness. SF Masterworks.

Maier, R. (2022). «(K)eine Alternative. Männlichkeit verbieten, überwinden oder doch reformieren?» In: BOYkott Magazin, 2, S. 1–6.

Maihofer, A. (2019). «Feminismus und Emanzipation—Und darüber hinaus». In: A. Demirovic, S. Lettow, & A. Maihofer (Hrsg.). Emanzipation: Zu Geschichte und Aktualität eines politischen Begriffs: Zur Geschichte und Aktualität eines politischen Begriffs (S. 175–205). Westfälisches Dampfboot, S. 175–205.

Maihofer, A. (2021). «Orlando – eine Trans*Geschichte: Woolfs konkrete Utopie einer Vielfalt von Geschlecht, Geschlechterdifferenzen und Sexualitäten». In: A.-B. Rothstein (Hrsg.). Kulturelle Inszenierungen von Transgender und Crossdressing (S. 113–146). transcript.

Romm, C. (25.09.2015). «The Life and Death of Martha’s Vineyard Sign Language». In: The Atlantic.

Tholen, T. (2016). «Kritik aus affektiver Fülle. Roland Barthes’ späte écriture». In: Germanisch-Romanische Monatsschrift, 66, S. 315–328.

Thym, A. (2023). Hegemony and Critique. An Investigation of Critical (Self-)Reflections by Men in Leadership Positions in the Financial Sector. Unpublished dissertation. University of Basel.



[1] Dabei unterscheidet Foucault zwischen Machtverhältnissen, die Teil alltäglicher Interaktionen sind, beispielsweise wenn eine Person spricht und die andere zuhört. Macht beschreibt «eine Form handelnder Einwirkung auf andere» und wird «immer von den ‘einen’ über die ‘anderen’ ausgeübt» (Foucault, 2005, S. 255). Machtverhältnisse können auf Konsens beruhen, aber sie sind nicht Ausdruck von Konsens (ebd.). Demgegenüber spricht Foucault von «Herrschaftstatsachen» oder «Herrschaftszustände[n]», «in denen die Machtbeziehungen, anstatt veränderlich zu sein und den verschiedenen Mitspielern eine Strategie zu ermöglichen, die sie verändern, vielmehr blockiert und erstarrt sind» (Foucault, 1984, S. 878).


Beitragsbild von Alissa Gabler und Janic Walder, bearbeitet mit einem Filter.

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