Geschlechterforschung, Kunst, Literatur

Ein Tag in der Zukunft

Von Cléa Barbier. Dieser Beitrag ist Teil der Reihe «Sailing into another future. Emanzipatorische Utopien zu Geschlecht, Sexualität und darüber hinaus».


Ankunft: 9h02

Das Rütteln hört abrupt auf, und ich erschrecke fast über die darauffolgende Stille. Langsam kehre ich in meinen Körper zurück und ich spüre, wie das Rütteln bis in die letzte Zelle nachhallt. Ich bleibe einige Sekunden, Minuten, Stunden (?) so sitzen, bis ich fühle, dass sich meine verkrampften Muskeln entspannen.

Erst jetzt fällt mir wieder ein, wieso ich eigentlich hier bin. Hat es wirklich geklappt? Scheisse, auf was werde ich da draussen treffen?

Die Entspannung, die meinen Körper noch vor ein paar Augenblicken erfasst hatte, ist blitzartig verschwunden. Ich spüre, wie Adrenalin durch meinen Körper fliesst und sich immer stärker aufbaut. Gleichermassen vor Freude und Angst erfüllt, nehme ich wahr, wie sich mein Arm ausstreckt und zur Klinke greift, ohne dass ich ihn kontrollieren kann. Was, wenn mein Gehirn so sehr mit dieser Situation überfordert ist, dass es einfach aufhört zu funktionieren? Ich stelle mir vor, wie ich wie ein überhitzter Computer abstürze, herunterfahre. Nein, ich muss mich zusammenreissen. Ich versuche mich wachzurütteln, und aus dieser Trance auszubrechen. Meine Hand ist mittlerweile auf der Türklinke gelandet, und ich zieh sie abrupt zurück. Gut, immerhin gehorcht mir mein Körper wieder. Ich schliesse meine Augen, nehme drei, vier tiefe Atemzüge und öffne die Tür.

Die Zeitmaschine. Dieses Bild wurde mit dem Deep Dream Generator, einem KI-basierten Bildgenerator, hergestellt.


Ich höre Vogelgezwitscher, ein sanfter Wind streicht mir übers Gesicht. In der Ferne vernehme ich Stimmen und Lachen. Langsam öffne ich meine Augen. Ich stehe auf einer Wiese, hinter mir erstreckt sich ein Wald aus riesengrossen Laubbäumen. Um mich herum wachsen unzählige bunte Blumen. Einige von ihnen kann ich sogar zuordnen: dort ist eine pinke Sonnenblume, da wachsen violette Tulpen, hier leuchten Gänseblümchen in schillernden Blautönen. Ich bücke mich, um eines zu pflücken (vielleicht können die später untersucht werden). Doch gerade als ich den Blumenstiel anfassen möchte, erklingt ein lautes Dröhnen. Oh, oh, das klingt nicht gut. Ich richte mich wieder auf und sehe, wie eine Person auf mich zukommt. Sie fuchtelt mit den Armen und ruft mir etwas zu, was ich jedoch nicht verstehe. Soll ich wegrennen? Ich könnte mich einfach zurück in die Maschine verkriechen, die mich herbrachte, und warten bis der Tag vorbei ist.

Bevor ich mich aber dazu entscheiden kann, mich endlich zu bewegen, steht die Person schon vor mir. Sie lächelt mich freundlich an und erzählt mir etwas in einer mir unverständlichen Sprache. Oder ist es Deutsch in einer so entfernten Form, dass ich es nicht verstehe? Wie weit in der Zukunft bin ich denn gelandet? Und wie soll ich herausfinden, wie diese Gesellschaft funktioniert, wenn ich nicht mit den Menschen kommunizieren kann? Zweifel machen sich in mir breit, und ich muss dem Drang widerstehen, mich umzudrehen und einfach wegzulaufen. Ich richte meine Aufmerksamkeit wieder auf die Person, die vor mir steht: Sie zeigt auf die Blumen und schüttelt leicht den Kopf, lächelt mich aber freundlich an. Ich lächle zaghaft zurück. Ihr Lächeln wird breiter, und sie dreht sich um und bedeutet mir, ihr zu folgen. Ich bin neugierig und folge ihr. Wir laufen vielleicht zehn Minuten lang.

Dies gibt mir eine gute Gelegenheit, meine Begleitung näher zu mustern. Sie trägt ein grosses Gewand aus dünnem, fast durchsichtigem Stoff, der bis zum Boden reicht. Auf den ersten Blick erscheint der Stoff hellgrau, doch je nach Licht verändert sich die Farbe von hellgrau zu bläulich und zu violett. In der Sonne sieht er wie flüssiges Metall aus. Ihr Kopf ist geschoren und von ihren Schläfen bis zu ihren Wangenknochen verläuft eine Spur silbriger Glitzerpartikel. Und wächst da eine Blume aus ihrem Schulterblatt?

Wir laufen einen Pfad entlang, der an mehreren Hochhäusern vorbeiführt. Einige sind so sehr mit Pflanzen überwuchert, dass mir zunächst gar nicht auffällt, dass es sich um Häuser handelt. Die Person führt mich in eines dieser Gebäude hinein und läuft in einen Raum voller elektrischer Geräte. Sie nimmt eine Hörmuschel von der Wand und reicht sie mir. Ich ziehe sie an und als die Person nun mit mir spricht, erklingt eine Art Übersetzung im Hörgerät, die mir jedoch ebenfalls unverständlich ist. Ich reiche ihr das Gerät wieder zurück und sie tauscht es mit einem anderen aus. So geht es ein paar Mal hin und her, bis ich schliesslich eine vertraute Sprache erkenne. Ich nicke eifrig. Erstaunt stellt die Person fest, dass es sich dabei um die älteste Version der Sprache handle. Ich muss wohl eine sehr lange Reise hinter mir haben. Daraufhin frage ich sie, in welchem Jahr wir uns befänden. Sie antwortet, wir seien im Jahr 300981, dies könne ich aber nicht wirklich zuordnen, da sie den Kalender gewechselt hätten. Es herrsche eine neue Zeitrechnung, denn ‘vor’ oder ‘nach Christus’ gäbe es nicht mehr. Religion habe auf institutioneller Ebene an Bedeutung verloren.

Sie erklärt mir auch, ich sei nicht die erste Person aus der Vergangenheit, die auf Besuch käme (weshalb sie auch so gut ausgerüstet sind für eventuelle Besucher*innen). Ich käme aber bei weitem aus der fernsten Vergangenheit. Sie sei extra für solche Besuche zuständig und werde mir hier bei Seite stehen und all meine Fragen beantworten. Praktisch.

Transkription vom Interview mit Fyhn: ca. 10h15 – 12h15

Fyhn: Hi, ich bin Fyhn. Und weil die Frage von euch Besuchenden immer gestellt wird: Nein, ich habe keine Pronomen. Hier hat die Kategorie Geschlecht schon vor mehreren hundert Jahren – dank vieler Bemühungen und Protestbewegungen – an Bedeutung verloren. So hat sich auch unsere Sprache von dem Deutsch, das du sprichst, weiterentwickelt und vergeschlechtlichte Begriffe wie auch Pronomen verschwanden schliesslich vollständig aus dem Wortschatz.

Ich: Wie kam es denn zur ‘Abschaffung von Geschlecht’?

Fyhn (lacht): ‘Abschaffung von Geschlecht’ klingt so negativ, ich würde eher von Befreiung sprechen. Mit der Zeit haben sich immer mehr Menschen mit ihrer eigenen Geschlechtsidentität auseinandergesetzt, diese hinterfragt und kamen zu dem Schluss, dass erstens eine Geschlechterbinarität, wie ihr sie noch habt, keineswegs reicht, um alle Existenzweisen zu beschreiben, und dass es überhaupt eine ziemlich absurde Idee ist, Menschen nach Geschlechtern zu kategorisieren. Immer mehr Menschen trauten sich, sich gegen das Geschlecht zu stellen, welches ihnen zugeschrieben wurde, und fanden Stärke im Ausdruck ihrer eigenen, ‘wahren’ Geschlechtsidentität. Irgendwann gab es so viele unterschiedliche Existenzweisen von Geschlecht, dass es keine Rolle mehr spielte, als ‘was’ mensch sich identifizierte, bzw. wie eine bestimmte Ausdrucksweise geschlechtlich einzuordnen war. Geschlecht wurde immer mehr zu einem nebensächlichen Aspekt von Identität, bis dieser Aspekt irgendwann ganz verschwand. Durch die Vervielfältigung von Geschlecht, konnten auch Hierarchisierungen zwischen den Geschlechtern bekämpft werden und es wurde immer schwieriger, die Vormacht einer Kategorie aufrechtzuerhalten.

Ich: Wie ist denn eure Gesellschaft heute strukturiert? In meiner Gesellschaft spielt Geschlecht noch immer so eine zentrale Rolle, dass ich mir gar nicht vorstellen kann, wie eine Zivilisation ‘ohne Geschlecht’ aussieht und funktioniert.

Fynh: Wieso sollte denn Geschlecht so zentral sein für das Funktionieren einer Gesellschaft? Wieso sollte es gesellschaftliche Auswirkungen haben, wenn ich mich als dieses oder jenes identifiziere? Hier machen Menschen das, was ihnen entspricht, worin ihre Fähigkeiten liegen und was ihnen gefällt. Sie müssen nicht etwas tun, nur weil sie ein spezifisches Merkmal haben, was sie dazu verdammt, auf spezifische Art und Weise zu handeln und zu leben. Für mich wirkt das eher sehr absurd.

Ich: Wie sieht denn zum Beispiel die Familienkonstellation aus?

Fynh: Diese kann sehr unterschiedlich aussehen und ist frei gestaltbar. Es gibt Familien mit Kindern, aber auch viele ohne. Es gibt Familien mit einer erwachsenen Person oder mit mehreren. Ich selbst bin zurzeit in zwei Liebesbeziehungen, und habe mit einer dieser Personen ein Kind. Der Begriff Familie wird sehr flexibler und umfassend angewendet. Eine Familie kann auch aus sehr eng befreundeten Personen bestehen, die sich entscheiden, sich gegenseitig im Alltag zu unterstützen und vielleicht auch Kinder zu haben. Familie entsteht eigentlich dadurch, wie wir uns zueinander verhalten, wie stark wir miteinander unser Leben teilen.

Ich: Wenn ich Fragen darf… also zum Thema Kinder kriegen… (ich merke, wie ich rot werde) … falls das nicht zu persönlich ist…

Fynh (unterbricht mich/kommt mir zur Hilfe): Du möchtest wissen, wie das mit der Fortpflanzung funktioniert? Diese Frage wird mir auch jedes Mal gestellt, und ich verstehe zwar nicht ganz, wieso das Interesse daran so gross ist, aber ich kann dir deine Frage trotzdem gern beantworten. Fortpflanzung findet in der Regel in Kliniken statt. Den meisten Personen ist es nicht möglich, ein Kind ohne künstliche Hilfe zu zeugen, deshalb hat es sich ergeben, dass die grosse Mehrheit eine künstliche Befruchtung bevorzugt. Auch Menschen, die theoretisch nicht auf künstliche Befruchtung angewiesen sind, weichen auf diese Methode aus, da die Erfolgschancen höher liegen und sich alles besser planen lässt.

Es gibt zwar noch Menschen, die durch Sex Kinder zeugen, aber dies ist nur noch selten der Fall. Sex und Fortpflanzung wurden weitgehend voneinander entkoppelt. Auch weil wir nun über sehr gute Verhütungsmittel verfügen und Wert darauf legen, dass Wissen rund um Reproduktion geteilt wird, kommt es nur noch äusserst selten vor, dass ein Mensch ungewollt schwanger wird.
Ein Besuch der Kliniken ist, wie unser ganzes Gesundheitswesen, natürlich für alle kostenlos.

Ich: Wie wird das bezahlt?

Fyhn: Ganz einfach! Durch Steuern und individuelle Spenden. Zwar gibt es keine Multimilliardär*innen mehr wie zu deiner Zeit, da jegliche Ausbeutung von Arbeitenden strikt verboten ist – und dies auch wirklich gesetzlich durchgesetzt wird – aber durch hohes Besteuern von Vermögen kommt Einiges zusammen.

Ausserdem bekommen alle Menschen ab 14 Jahren jeden Monat eine Geldsumme vom Staat geschenkt, welche das Existenzminimum garantiert. So können Menschen sich viel mehr Zeit nehmen für Dinge, die ihnen wichtig sind und ihnen Freude bereiten. Wir haben kaum Geldsorgen. Dies heisst wiederum auch, dass die Kosten für Sozialleistungen extrem gesunken sind. Das Geld, das dort gespart wurde, fliesst entweder ins Gesundheitswesen oder wird für eben diese monatlichen Beiträge eingesetzt. Dies sorgt dafür, dass das Geld im Umlauf bleibt.

Ich (schaue erschreckt auf meine Uhr): Oje, schon so spät! Ich muss mich leider verabschieden. Vielen Dank für deine Bereitschaft, mir einen knappen Einblick in eure Gesellschaft zu geben.

Fyhn: Sehr gern.

Die Stadt. Dieses Bild wurde mit dem Deep Dream Generator, einem KI-basierten Bildgenerator, hergestellt.


Abfahrt: 13h00

Leider ist meine Zeit in der Zukunft begrenzt, und ich musste das Gespräch frühzeitig beenden. Aber ich bin mir auch nicht sicher, wie viele Informationen ich noch hätte aufnehmen können. Mein Kopf schwirrt schon von kreativen Ideen und Alternativen, die ich zurück in die Vergangenheit mitnehme.

Ich verabschiede mich von Fyhn und mache mich langsam auf den Weg zurück zur Zeitmaschine. Um Punkt 13h00 soll ich die Zukunft verlassen, für eine längere Zeitspanne an diesem faszinierenden Ort ist die Technologie noch nicht ausgereift. Leider. 

Ich laufe vorbei an den weiss glänzenden Hochhäusern, an den mit Pflanzen überdeckten Wohnvierteln, und schliesslich an der Wiese mit den wundervollen Blumen. Ich versuche mir jedes Detail einzuprägen. Von den summenden Insekten zu den riesengrossen Bäumen zu den bunt gekleideten Menschen bis hin zu den schimmernden Gebäuden. Am liebsten würde ich alles fotografieren. Doch viel zu früh steht sie vor mir: die Zeitmaschine, die mich zurück in eine Zeit führen wird, die geprägt ist von Ungerechtigkeiten, Hierarchisierungen, Gewalt und Ausbeutung. Als ich in die Maschine steige, erfasst mich trotz allem, was mich zuhause erwartet, ein ungeahntes Gefühl von Hoffnung, da ich nun mit Sicherheit sagen kann: Alles wird gut.



Cléa Barbier (sie/keine) studiert Gender Studies und Kulturanthropologie an der Universität Basel. Nebst feministischem Aktivismus gehört auch das Theaterspielen zu Cléas Leidenschaften: sie spielte in mehreren Produktionen mit (junges theater basel und Junge Marie), in denen Cléa unter anderem feministische Anliegen einem jugendlichen Publikum näher bringt. Cléa hofft,  einen kleinen Teil dazu beizutragen, dass zukünftige Generationen in einer feministischen und emanzipatorischen Utopie leben werden.


Beitragsbild: Alle Bilder für diesen Beitrag wurden mit dem Deep Dream Generator, einem KI-basierten Bildgenerator, hergestellt.

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