Kunst, Politik

Wütend und unendlich zärtlich zugleich

Von kunst+care. Wir sind ein wachsendes Netzwerk von caregebenden Künstler*innen. Wir haben genug von lonley struggles/ einsamen Kämpfen, verbünden uns zu empowernden / stärkenden Kompliz*innenschaften und vereinen unsere Kräfte, um notwendige Veränderungen im Kultursektor zu erwirken!


Eine Stimme aus dem Netzwerk

Das Wort Flexibilität lässt mich nicht mehr los, seit ich kunst+care zusammen denke und zusammen zu leben versuche. Flexibel sein müssen, flexibel reagieren, mich durchs Leben, durch meine Pflichten, durch meine Verbindungen fli-fla-flexen…

Das Wort Flexen – so lese ich in einem Buch über Flaneusen* – bedeutet trennschleifen, biegen, Sex haben, das Variieren von Geschwindigkeiten beim Rap, die Muskeln anspannen und eben flanieren, das absichtslose Streunen durch die Stadt.

Ich mag den Beginn dieser beiden Wörter, das Wörtchen Flex, in all seinen möglichen Bedeutungen. Ich mag es, mich absichtlich in einer mir bekannten Stadt zu verirren, ich mag es, immer wieder das Tempo zu wechseln.
Als Künstlerin*Mutter gibt es kaum Gelegenheit mehr zum Flanieren, es gibt immer ein bis hundert Ziele und immer einen nächsten Punkt auf dem Zeitplan, einen nächsten Ort auf dem Stadtplan, wo jemand darauf wartet, das ich wie besprochen dort erscheine, wo jemand unflexibel auf mein Kommen angewiesen ist – flexibel bin nicht ich beim Befüllen meiner Aufgabenliste, sondern die Punkte auf dieser Liste (egal ob Familie, Beruf oder Hobby) müssen maximal flexibel sein, damit ich überhaupt damit beginnen kann zu versuchen, sie zu erfüllen.

Wenn ich an die gebotenen Bedingungen von Elternschaft und ganz im Speziellen von Mutterschaft heute in der Schweiz denke, spanne ich meine Muskeln an –
Wenn ich an die Bedingungen zum Kunstschaffen als Frau und Mutter heute in der Schweiz denke, spanne ich meine Muskeln an –


Ich und viele, wir spannen unsere Muskeln an, biegen unsere Lebens-Pläne zurecht, was das Zeug hält, um das Plus zwischen Kunst und Care in unsere Leben zu schieben. Denn eine Pause, absichtsloses Treiben lassen, Scheitern – lässt alles zusammenfallen, können wir (uns) nicht leisten.

Ich wäre gern am Flexen, wäre gern flexibel – was ich jedoch stattdessen stets sicher bin, ist unsicher, ist prekär, ist nah am Aufgeben, ist müde, ist trotzdem hoffnungsvoll, ist kreativ im Finden von Verbündeten, Aufgaben, finanziellen Mitteln und Orten, die mir Flexibilität zu schenken vermögen. 


Eine andere Stimme 

Dieser verdammt brutale, zutiefst ungerechte Weg, den wir gegangen sind, die Art und Weise, wie wir Wohlstand geschaffen haben und immer noch schaffen.

Ich wünsche mir sehnlichst, dass das Da-Sein füreinander, das Sich-Kümmern, zum globalen (oder menschlichen?) Grundantrieb wird. Dem Leben und Lebendigen zugewandt – denn das ist es, was unter die Räder kommt, das Lebendige, das sich aus sich selbst Erneuernde, Verletzliche, Atmende, Blühende, Liebende.

Alles ist zu einer zerleg-, verfüg- und konsumierbaren Ressource geworden. 

Wir wollen Fürsorge, wir sind zutiefst bestrebt, gut zu sein, wir wollen das Beste – und wir können es nicht wollen. Die Erde wird abgefackelt und wir tun weiter so, als wäre Wohlstand und Überkonsum unser angeborenes Recht. Das ist doch Wahnsinn?! Systemischer Wahnsinn!!


Eine atemlose Stimme aus unserer Mitte

(M)ein Leben in Zeitarmut ist ein Teufelskreis. Ich brauche Zeit,
um kunst+care zu machen,
doch bin leider knapp bei Kasse,
kein Erspartes und ein bescheidenes Vermögen von 42 Jahren auf dieser Welt, knapp 15 Jahren Erfahrung als Theatermacherin und seit 2 ½ Jahren Mutter einer wunderbaren Tochter. 



Eine verdichtende Stimme

Mein Aussen
Schmerzhaft ums Gesicht geschleudert
Gehe ich langsamer, schaue mehr zurück
Wo du wohl bist

Wo beginne ich
Ein Anfang, der von weit her kommt.

Die Mutter reibt und kratzt an mir.
Abzutragen. Schicht um Schicht.
Ungelöst. Ein Teil von mir.

Ich schaff es nicht. Die Mutter schafft es kaum.
Die Kunst weg. Die Mutter weg.
Für lange Zeit. Vergessen gemeint, verloren geglaubt.
Zunichte gemacht, unerkannt.
Ohne Bruch.

Kein Geld bekomme ich
Für den Rest.
Für die restlichen Tage.
Für die restlichen Stunden.
Für die restliche Arbeit. 
Das Kind erschöpft sich über mich.
Ergiesst sich lahm und zähflüssig.

Körper trägt Körper trägt Körper.
Tragend.
Durch die Welt.

Das Kind frisst meine Zeit.
Und frisst meine Energie.
Und frisst und frisst und frisst.
Und frisst mich auf.
Wo ich hingehe, da kommst du mit.
Manchmal nimmst du mich an Orte,
die mir fremd und komisch sind.
Ich bleibe 
aber bei dir.

Mit dir sehe ich den Vogel,
bevor er in meinem Blickfeld über den Himmel zieht
und rieche den Wald in der Stadt.
Ich bringe dich ins Bett
Und Raum entsteht in der Dunkelheit.
Wieder bin nur ich.
Ich mit mir.
Ein Vielleicht.


Eine innig sich äussernde Stimme,
die keine Antworten mehr geben möchte

Sag‘ ich‘s oder sag ich‘s nicht? Wer kommt? Wer bleibt? Wer muss gehen? Wer kann übernehmen? Heute du oder ich? Wie viel Geld gibst du im Monat für Unterstützung aus? Wie kriegst du das alles hin? Wie viele Kinder hast du? Wie viele Produktionen machst du? Wie viele Jobs hast du? Willst du Kinder und wenn ja wie viele? Kannst du dich noch vertiefen? Kannst du davon leben? Warum machst du es so? Wer kümmert sich? Wie lange noch? Hast du (k)ein schlechtes Gewissen? Macht das wirklich Sinn so?

Ist es dir wirklich so wichtig? Wann hast du wieder Zeit? Wie hast du dir das alles vorgestellt?


Eine müde Stimme

Absage! Das ist nichts Neues. Absagen sind Teil des Geschäfts. Die Ausschreibung war so formuliert: “Unterstützt werden kürzere und längere Arbeitsphasen, in denen die eigene Arbeitsweise überprüft und thematisch geforscht werden kann.” 

Wir wollten Pleasure/ Lust und Freude als politische Kraft untersuchen, eine Kompliz*innenschaft gründen, genau zuhören, eine gemeinsame Sprache entwickeln: wo können wir uns verschenken, wo sind Grenzen? Und dabei Partner*innen, Krankheiten, pflegebedürftige Eltern, Kinder, Zeit, Erwartungen, Privilegien, Transportmittel, Materialien mit in das Überdenken einbeziehen. 

Die Absage, ein formaler Brief. Auf Nachfrage dann die Erklärung: Du hast zu wenig mit deinen Stücken getourt in den letzten zwei Jahren. 

Aha, denke ich, am Touren misst sich der Wert einer Künstler*in? Wer sich „nach“ der Pandemie gleich zurück in den Markt geschossen hat, wird belohnt. 

Wir hatten doch etwas gelernt: Support statt Wettbewerb. Weniger. Bewusster. Langsamer. Ausbeuterische Verhältnisse nicht reproduzieren. Das hatten wir erlebt, erfahren und für wichtig befunden! All das will ich, will ich, will ich jetzt nicht wieder entlernen!  


Eine langsam immer wütender werdende Stimme

In der heissen Jahreszeit giesse ich die Büsche vor dem Haus und mache immer auch den Baum auf der Strasse, obwohl der zur Stadtgärtnerei gehört. Ich liebe meine Strasse und den Baum. Der Müll, den Passant*innen auf unseren Treppenstufen liegen lassen, kommt zurück auf die Strasse, weil ich finde, dass er nicht nur mich, sondern uns alle angeht. Wenn ich vor dem Haus bin, sprechen mich Nachbar*innen an. Wir kennen uns an dieser belebten Kreuzung mit ihren Cafés, dem Kiosk, den langsamen Ampeln. Es hat sich herumgesprochen, dass man mich ansprechen kann: für Wissensaustausch, um Beamtendeutsch zu übersetzen, fürs Formulare ausfüllen, etwas Auszudrucken oder auf Ricardo zu posten. Ich bin Regisseur, aber hier bin ich auch Care Worker für jene Bereiche, die mir leicht fallen. Ich will glauben, dass das wichtige Arbeit ist. Jede kleine Handlung. Auf der Mauer vor unserem Haus wurde eine 20 Minuten liegen gelassen. Ich lese: “Kunst-Jetset kommt mit dem Privatflugzeug – der Euro-Airport registriert bis zu 600 zusätzliche Flugbewegungen durch Businessjets während der Art Basel.”
Ich giesse unseren Baum, weil ich mir wünsche, dass die Kinder noch lange mit ihm leben können. Aber das reicht nicht mehr. Es braucht einen Aufstand. Eine Care Rebellion.


Eine ängstliche Stimme, die froh ist, dass hier viele Stimmen sind, weil das den Druck nimmt, irgendetwas super zu machen, gut zu machen, alleine zu sein, lächerlich zu sein, unwichtig zu sein

Ich bin heute nach Lausanne gefahren, da dort ein Gericht entschieden hat, ob die Polizisten, die Mike Ben Peter getötet haben, zur Verantwortung gezogen werden müssen. Sie sind freigesprochen worden. 
Ich hatte am Nachmittag ein Video geschaut, das auf dem feministischen Streikkollektiv-Kanal rumgeschickt wurde und bin spontan nach Lausanne zum Gericht gefahren. Im Video ist Mikes Frau zu sehen mit drei Kindern.

Zum Glück essen wir mit den zwei Kindern und zwei weiteren jeden Donnerstag-Mittag zusammen mit Laura, einer Freundin. So konnte ich losrasen mit dem Velo und in den Zug nach Lausanne springen, während sie die vier Kinder zurück zur Schule brachte. Ich musste auch nicht bereits um 16 Uhr wieder vor der Schule stehen, da jeden Donnerstagnachmittag Pascaline die Kinder zu sich nimmt und ich sie dann dort abholen kann. Jeden Montag essen sie mit Lori und Isabelle, den Nachbar*innen; und sie sind oft mit Mara und Jérôme und auch oft mit ihrem Vater und mit anderen Menschen. 

Mit dem Vater geht’s jetzt viel besser, aber sie sind doch viel mehr mit mir und ich bezahle alles alleine für die Kinder. Das Zivilgericht hat mir am 15. Juni, einen Tag nach dem feministischen Streiktag, einen Brief zukommen lassen, in dem steht, dass die Kinder den Vater nun nur noch 90 Minuten pro Woche sehen können und dies nur unter Aufsicht einer Kontrollperson. In dem Brief steht, dass ich mich strafbar mache, wenn ich ihm die Kinder zu anderen Momenten gebe. Unser System, die Abmachungen, die wir miteinander gefunden haben, funktionieren sehr gut, hab ich bei jeder Verhandlung gesagt. Dass er jeden Dienstag und Mittwoch mit den Kindern sei und dass das sehr gut gehe. Dienstag und Mittwoch brauche ich fürs Dossier-Schreiben. 
Ich habe Rekurs eingereicht. Ja er habe keine wirkliche Wohnung und keinen geregelten Aufenthaltsstatus in der Schweiz und die Kinder seien immer bei mir, jede Nacht, dass sie tagsüber sehr gern mit ihrem Papa seien und dass sie von ihm und auch von anderen Menschen liebevoll umgeben sind und dass es den Kindern gut gehe. 
Ich bin nicht gehört worden



Auf der Rückfahrt vom Gericht, das die Polizisten, die Mike getötet haben, freigesprochen hat, konnte ich zum Glück weinend mit Meret telefonieren und mit Thomas und mit Jana und ich habe Alexis eine weitere Sprachnachricht hinterlassen, sogar zwei und ihm gesagt, dass ich verliebt sei. 
Auf dem Plakat für Mike Ben Peter stand heute nicht rest in peace, sondern rest in power. Lass uns weiter lebendig sein und nie zu sicher sein und voller Angst, denn das bedeutet klar zu sehen. Lass uns einander gegenseitig unterstützen, nicht bis auf die nackte Existenz ausbeuten, nicht zu Tode verprügeln. 

Lauren Bastide hat am 13. Juni, am Abend vor dem feministischen Streiktag gesagt, dass es darum gehe zu sagen:ich bin auch unsicher, ich habe auch Angst, ich weiss es auch nicht genau. Lass uns voller Geduld sein und auf Züge springen und die Freundin anrufen, um dem Kind noch kurz zu sagen, dass es nicht geht, dass ich schreie, nur weil ich gestresst bin, da der Zug bald fährt. Und die Freundin lieben, die liebevoll da ist für das Kind, von dem ich gestresst wegrase, mit schlechtem Gewissen, da ich rechtzeitig woanders sein will. Lass mich Danke sagen: der Freundin, die das Telefon dem Kind reicht, dem ich vom Bahnhof aus nochmals in Ruhe sagen kann, dass ich es liebe und dass ich mich auf den Abend freue und dass wir dann die vegane Glacé zusammen machen. Und lass sie mich dann auch wirklich machen. Lass uns nicht aufhören, füreinander da zu sein. 
Heute bin ich traurig und ja wir sind wütend und unendlich zärtlich zugleich. Und klar und unendlich unsicher und stark und unendlich verletzlich. Das ist care. 


Autor*innenschaft für kunst+care: Beatrice Fleischlin, Laura Küng, Nina Langensand, Johanna-Maria Raimund, Regula Schröter, Monika Truong, Barbara Ellenberger und weiteren anonyme Stimmen. Join us / Verbünde dich mit uns / Werde auch Komplize*in!

Alle Bilder: kunst+care am feministischen Streiktag 2023, Basel und Zürich. ©Privat.

Flugblatt zum feministischen Streiktag 2023 von kunst+care.

2 Gedanken zu „Wütend und unendlich zärtlich zugleich“

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