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Vernetzen: Dialog als Intervention

Von Andrea Zimmermann.




Berufliche Netzwerke, private Netzwerke – längst sind Netzwerke Teil unseres sozialen Kapitals im Kontext der gegenwärtigen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung. Wer gut vernetzt ist, hat bessere Chancen. Was früher für die ‚Old-Boy-Networks‘ galt, die männlichen Mitgliedern der Elite vorbehalten waren, ist geringfügig modifiziert zu einem Muss im Arbeitsalltag vieler geworden. Networking-Anlässe finden in allen möglichen Kontexten und zu allen möglichen Themen statt. Es geht dabei vor allem darum, sich gegenseitig von Nutzen zu sein – und so lernen wir, einander auszusuchen: Wer bringt mich weiter? Wer verhilft mir zu Sichtbarkeit? Zum nächsten Auftrag? In welchen Kontexten platziere ich mich und mein Tun möglichst gewinnbringend? Entsprechend eindimensional und kurzlebig sind manche Verbindungen.

Was könnte es aber bedeuten, in diese opportunistische Logik als art of intervention zu intervenieren?

Der Begriff der Intervention ruft zunächst die Assoziation auf, solche Netzwerke zu unterbrechen, vielleicht sogar zu zerreißen. Wie es vielen Momenten der Kritik innewohnt, geht es aber zunächst darum, einmal innezuhalten, diese kapitalistische Logik von Beziehung in den Blick zu nehmen und zu überprüfen: Ist das die Art und Weise, wie wir Beziehungen und Verbindungen zueinander gestalten wollen?

Als art of intervention möchten wir in diesem Text dafür plädieren, weiterhin Netzwerke zu knüpfen und Koalitionen einzugehen – dabei jedoch einer emanzipatorischen Logik zu folgen. Auf diese Weise, so die geteilte Hoffnung, könnten wir den Austausch in diesen Netzwerken dazu nutzen, gemeinsam über die Bedingungen von Zusammenleben, von Zusammenarbeit und (in diesem spezifischen Kontext) von Kulturschaffen nachzudenken. Die Soziologin und Geschlechterforscherin Ute Gerhard formuliert im gerade erschienen Dossier „Frauennetzwerke“, das vom Deutschen Kulturrat herausgegeben wurde:

Das Bild von Netzwerken weist darauf hin, dass die persönlichen Beziehungen unter Initiatorinnen und Aktivistinnen bewusst geknüpft werden, um zu gemeinschaftlichem Handeln zu ermächtigen […]. Das bedeutet, dass sie auf innere Verbundenheit, ein Wir-Gefühl, das heißt auf Solidarität angewiesen sind.

Ute Gerhard

Hier klingen zwei Herausforderungen an, die mit Netzwerken in diesem Sinne verbunden sind. Erstens, was ergibt sich, wenn wir beim Netzwerken nicht in den Blick nehmen, wie sich der Marktwert der einzelnen steigern lässt, sondern dem Konflikthaften, dem was quer zu liegen scheint, nachgehen – gerade im Miteinander? Kommen wir vielleicht gemeinsam aus unterschiedlichen Perspektiven den Ursachen für dieses Unbehagen auf die Spur? Was, wenn genau dies einer der Ansatzpunkte wäre, um Herrschaftsverhältnisse und Strukturen sozialer Ungleichheit, Diskriminierung und Marginalisierung aufzuspüren? Im Hinblick auf die vorherrschende Geschlechterordnung, auf Leitungsmodelle, Produktionsweisen, Arbeitsbedingungen und die Frage nach Diversität?

Zweitens stellt sich die Frage, wie wir längerfristige Koalitionen schmieden können: Wie können wir entgegen der durchgetakteten und auf Output angelegten Produktionslogik in den Kultur- und Wissenschaftsbetrieben im Dialog bleiben und gemeinsam Wegstrecken zurücklegen, um neue Formen des Diskutierens und des künstlerischen Arbeitens auszuprobieren, zu überprüfen, weiterzuentwickeln?


In Dialog treten

Aber wie kommen wir überhaupt miteinander in ein solches Gespräch? Es müsste ja ein Gespräch sein, in das wir unsere jeweiligen Perspektiven einbringen können, statt lediglich Positionen abzuklären, um uns letztlich wieder ausschliesslich mit denjenigen auszutauschen, deren Positionen wir teilen. Wie können wir die Position des vermeintlichen Überblicks und der vorgeblichen Objektivität verlassen, um von Erfahrungen auszugehen? „Staying with the trouble“ und das Situieren von Wissen nach Donna Haraway wären dann die Aufgabe.

In letzter Zeit haben uns Geschichten sehr beschäftigt: autobiographisch, autofiktional. Wir haben sie gelesen und gesehen bei Julia Weber, bei Kim de l’Horizon, bei Simon Froehling, bei Annie Ernaux, bei Ariane Andereggen, Marcel Schwald & Chris Leuenberger sowie Boris Nikitin. Sie alle erzählen Geschichten, die sich nicht über die Dinge stellen, sondern die eine persönliche Erfahrung zum Ausgangspunkt nehmen und diese auf unterschiedliche Weise durcharbeiten. Wie Daniel Schreiber  Anfang März dieses Jahres bei der Eröffnung des Kölner Kongresses „Auserzählt? Von Krisen und Neuerfindungen des Erzählens“ feststellte, haben diese Erzählweisen, die mit einer neuen Selbstverständlichkeit „ich“ sagen, eine ungeahnte Renaissance erlebt.

Es sind Geschichten, die von Marginalisierung und Diskriminierung handeln. Es sind oftmals Erzählungen, die als Gegenerzählung funktionieren oder die vorherrschenden Erzählungen in Frage stellen. Was diese Geschichten derzeit vermögen, scheint uns, ist eine Bezugnahme aufeinander – trotz aller Stereotypen und Vorannahmen, Menschen mit sich tragen. Wie Daniel Schreiber formuliert, haben sie

eine einzigartige Kraft. Sie machen eine Form der Teilhabe möglich, eine spezifische Form der ‚Miterfahrbarkeit‘, die sich in anderen literarischen und journalistischen Erzählformen nicht einstellen kann.

Daniel Schreiber

Diese ‚Miterfahrbarkeit‘ scheint uns zentral: Eine solche Geschichte wird gerade aufgrund ihrer Singularität zur vielstimmigen Geschichte. Rezipierende setzen sich mit der eigenen Biografie, mit den eigenen Erfahrungen dazu ins Verhältnis und vervielfältigen sie auf diese Weise. So wird die eine ‚grosse Erzählung‘, aber auch die „single story“ verhindert, wie sie von Chimamanda Adichie in ihrem eindrücklichen Text „The Danger of a Single Story“ definiert wird:

 The single story creates stereotypes. And the problem with stereotypes is not that they are untrue, but that they are incomplete. They make one story become the only story.

Chimamanda Adichie

Die Erzählformen, die wir meinen, die zwar von einer einzelnen Erfahrung ausgehen, öffnen gleichzeitig Raum für ähnliche und doch andere Erfahrungen. Sie ermöglichen ein Gespräch über Positionen, Analogien, Differenzen und Gemeinsamkeiten. Und dieses Gespräch, diese Dialoge über Verschiedenheit sowie über Formen und Bedingungen unserer Lebensweise, ist dringend nötig. Angesichts der hochemotionalen Debatten, der komplexen Herausforderungen, die sich derzeit stellen, scheint uns die ‚Miterfahrbarkeit‘ etwas zu ermöglichen, was oftmals aus dem Blick gerät: Im Gegensatz zum gewaltvollen Akt, über jemanden zu erzählen, und diese Geschichte zur einzigen Geschichte zu machen, zur „definite story of that person“ (Adichie), über die wir abschliessend urteilen können, ermöglicht das persönliche Erzählen eine Form der Begegnung. Einerseits können wir anknüpfen an Erfahrungen, seien es Momente aus der Beziehung zur Grossmutter, Momente der Trauer oder der Leidenschaft – andererseits bleibt die Differenz zwischen den Positionen sichtbar. Sie rücken die unterschiedliche Positionierung und die ungleiche Verteilung von Privilegien und Macht regelrecht ins Zentrum. So wird über die scheinbar persönliche ‚Miterfahrung‘ auch der Blick frei für strukturelle Bedingungen des Zusammenlebens und der Gesellschaft, in der wir unsere je eigenen Erfahrungen machen. Im besten Fall entsteht auf diese Weise ein Diskursraum, in dem gemeinsam erzählt und reflektiert wird. So wird das Schreiben und Sprechen einer einzelnen Person zum Ausgangspunkt für ein vielstimmiges Erzählen, in dem auch Raum für Unterschiede ist. Nicht das künstlerische Schaffen des Einzelnen steht im Vordergrund, nicht das Genie wird gefeiert, und auch das kunstkritische Urteilen einzelner ist fehl am Platz, vielmehr ist es ein Prozess der Ko-Kreation. Es entsteht eine Gegenerzählung zur „single story“. Auch wenn gesellschaftliche Strukturen sichtbar werden, die unser Erleben prägen, so bleibt die Positionalität in ihrer jeweiligen Eigenheit im Blick. Die Thematisierung gesellschaftlicher Ein- und Ausschlüsse geht dann mit dem Teilen des damit verbundenen Unbehagens einher.

Ziel emanzipatorischer Netzwerke wäre es folglich, andere Positionen und Erfahrungen nachzuvollziehen und zu respektieren. Bedingung dabei ist natürlich ein aufmerksames Zuhören und ein sich Zeit nehmen für das, was uns vielleicht zunächst unwichtig oder irritierend erscheint. Ein Gedanke, der sich auch im Programm der HGK findet, die mit der „Listening Academy“ eine Forschungsakademie ins Leben gerufen hat, „die darauf abzielt, das Zuhören als kreative und kritische Praxis zu erforschen“. Ein erster Schritt zum Dialog und zur Transformation. Oder nochmals mit Daniel Schreiber gesprochen:

Ich glaube daran, dass solche Texte uns dabei helfen können, […] uns unseren Traumata zu stellen und uns damit nicht mehr allein zu fühlen. Dass sie uns, indem sie davon erzählen, wie andere Menschen ihren Weg in einer Zeit der Unsicherheit finden, dazu anregen, einen Blick auf all die Geschichten zu werfen, die wir uns, vielleicht ohne es zu merken, selbst jeden Tag erzählen.

Daniel Schreiber


In Dialog bleiben

Es geht uns also gerade nicht darum, Netzwerke zu zerreissen. Vielmehr wollen wir fragen, wie es gelingen kann, einmal etablierte Netzwerke so zu pflegen, dass eine längerfristige Auseinandersetzung miteinander möglich wird. Und damit sind tatsächlich Konzepte von care angesprochen, wie sie sowohl geschlechtertheoretisch als auch in Bezug auf Praxen des Kulturschaffens diskutiert werden (vgl. die empfohlene Literatur am Ende dieses Beitrags). Das ist nicht nur in Bezug auf Diskussionen und gemeinsames Nachdenken, sondern auch im Hinblick auf die Entwicklung alternativer künstlerischer Praxen und ästhetischer Entwürfe interessant. Dieser Gedanke ist nicht neu, gewinnt mit der gegenwärtigen Kritik an der einsamen Geniefigur jedoch besondere Dringlichkeit. Und gleichzeitig steht die Logik der Selbstvermarktung und das damit einhergehende konkurrenzielle Verhältnis, in dem sich Wissenschaftler*innen und Künstler*innen stets zueinander befinden, der Etablierung solcher tragenden Netzwerke eigentlich im Weg. Es zählt die individuelle Autorenschaft. Wer Erfolg haben und aus dem Netzwerk herausragen will, muss die Beteiligung anderer am eigenen Schaffen möglichst unsichtbar machen. Zu sehr sind wir es gewohnt, nach dem Originalkünstler, dem Genie, Ausschau zu halten.

Wenn wir das Knüpfen von Netzwerken ernst nehmen, entsteht jedoch über die Zeit ein kaum zu überblickendes Geflecht an Akteur*innen. Es vernetzen sich einzelne miteinander: Aktivist*innen, Wissenschaftler*innen, Künstler*innen und Rezipient*innen, denen wir in öffentlichen Veranstaltungen begegnen und die sich entscheiden, sich in Diskussionen einzubringen. Diese sind völlig unterschiedlich positioniert: manche sprechen für sich, doch die meisten bringen eigene Kontexte mit in das entstehende Netzwerk – oder agieren sogar im Namen von Institutionen, von Verbänden, von Kollektiven. Mit diesen unterschiedlichen Positionierungen, mit der Machtgefälle, unterschiedliche Gestaltungsspielräume und Zugänge zu Ressourcen einhergehen und die sich im Laufe der Zeit auch ändern können, müssen wir umgehen lernen, wenn der gemeinsame Austausch gelingen soll. Schon nur die Ressourcen, die es braucht, um bestehende Verbindungen zu erhalten, sind unterschiedlich verteilt. Langfristige Koalitionen muss man sich in diesem Sinne auch leisten können, denn es ist aufwendig, sie zu pflegen. Es könnte helfen, einander immer wieder neu zu fragen: „Was brauchst Du, um Dich einbringen zu können?“

In diesem Sinne haben wir von art of intervention für den kommenden Herbst verschiedene Veranstaltungen zusammengetragen, die sich unterschiedlichen Netzwerken widmen. Manchmal geht es darum, neue Netzwerke zu etablieren oder sichtbar zu machen. Manchmal geht es darum, bereits bestehende Netzwerke zu nutzen für einen anderen Austausch, der uns zu Kompliz*innen machen kann. Manchmal geht es darum, verschiedene Netzwerke miteinander zu verbinden und ähnlichen Anliegen mehr Energie zu geben. Und manchmal geht es auch um Raum zur persönlichen Begegnung mit Biografien, mit Gegenerzählungen und Geschichten, die uns auf besondere Weise erfahren lassen, wie wir bereits miteinander verbunden sind. Hier geht es zum zusammengestellten Programm.



Empfohlene Literatur

Haraway, Donna J.: Staying with the Trouble. Making Kin in the Chthulucene. Durham: Duke University Press, 2016.

Saito Yuriko: Aesthetics of Care: Practice in Everyday Life. London: Bloomsbury Academic, 2022.

Seeck, Francis: Care trans_formieren. Eine ethnographische Studie zu trans- und nicht-binärer Sorgearbeit. Bielefeld: transcript, 2021.

Thompson, James: Care Aesthetics. For artful care and careful art. London: Routledge, 2022.

Tronto, Joan C.: „An Ethic of Care“, in: Generation. Journal of the American Society on Aging, 1998, Vol. 22, No. 3, S. 15–20.

Andrea Zimmermann war Leiterin der Vorstudie «Geschlechterverhältnisse im Schweizer Kulturbetrieb». Zusammen mit Dominique Grisard ist sie zudem Leiterin von art of intervention.


Bild: Illustration von Ariana Andereggen. ©Die Künstlerin.

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